Am nächsten Morgen war er beim ersten, noch schwachen Dämmern schon wieder auf den Beinen. Seine wenigen Sachen hatte der Hausdiener mit ein paar Handgriffen zusammengepackt, dann begab sich Sir James zu einem schnellen Frühstück hinunter in die Halle, wo sein Begleiter schon auf ihn wartete. Ein Laufbursche übernahm seine Taschen und brachte sie hinaus in den Stall, wo die Pferde der beiden schon auf Geheiß des Ritters gesattelt wurden.
Zu dieser sehr frühen Stunde waren nur ein paar Ritter anwesend, die wohl bald Wachdienst hatten und Sir James grüßte höflich in die Runde, während er sich an der Tafel niederließ.
„Guten Morgen, die Herren.“
„Gleichfalls, Mylord“, wurde sein Gruß freundlich erwidert. „Was treibt Euch denn so früh schon weiter?“
„Nur ein Botengang, nichts Wichtiges“, antwortete er ausweichend und widmete sich angelegentlich den aufgetragenen Speisen.
Der Frager verstand den Wink und hakte nicht weiter nach. Normalerweise war Sir James einem Plausch nie abgeneigt, aber heute vermied er die Konversation mit den Anwesenden. Über den Grund seiner Reise durfte er sowieso nicht reden. Außerdem hatte er es eilig, denn es wurde schon langsam hell draußen, und er wollte aufbrechen und seinen leidigen Auftrag hinter sich bringen.
Nach einer sättigenden Schale Brei aus Getreide und Milch, verfeinert mit ein wenig Honig und Rosinen, ließen er und sein Begleiter sich noch etwas frisches Brot und Ziegenkäse als Proviant für unterwegs geben. Dann füllten sie ihre Wasserflaschen und ritten los. Die Pferde waren ausgeruht und gut gefüttert und legten ein flottes Tempo vor, also sollten sie am frühen Nachmittag ihr Ziel erreichen, dachte Sir James zufrieden. Sehr gut. In dem Fall konnte er heute noch den Rückweg nach London antreten. Einmal würde er schon noch übernachten müssen, vielleicht in Northampton, bevor er endlich wieder seinem gewohnten luxuriösen Leben nachgehen konnte. Hoffentlich ließ sich dort wenigstens ein gutes, sauberes Wirtshaus finden, in dem er nicht das Lager mit einer Horde Flöhe würde teilen müssen!
Ihr Weg führte sie weitgehend über unbefestigte Wege durch ausgedehnte Wälder, gelegentlich unterbrochen von kleinen Feldern und Viehweiden, wenn eine Bauernsiedlung in der Nähe lag. Befestigte Straßen gab es nur in der Nähe von größeren Städten oder auf den alten Römerstraßen, die noch immer das Land durchzogen. Immerhin hatten sie das Glück, dass es seit einer Weile nicht mehr geregnet hatte, was eigentlich untypisch für die regenreiche Insel war. Das trockene, angenehme Wetter erleichterte ihre Reise ungemein, denn ein tagelanger Ritt in triefender, nasser Kleidung durch knöcheltiefen Matsch und Pfützen war wahrhaftig kein Vergnügen.
Als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, legten sie am Rand einer kleinen Lichtung, im kühlen Schatten von Eichen und Buchen, eine kurze Rast ein. Es war recht warm geworden und die verschwitzten Pferde konnten eine Erholungspause gebrauchen. Die Reiter setzten sich im Schatten der Bäume auf einen halb verrotteten Stamm und ließen sich ihren Proviant schmecken, bevor sie sich zur letzten Etappe aufrafften.
Sie mussten noch ein kleines Stück reiten, dann endlich konnten sie von der Kuppe eines Hügels aus in der Ferne die Mauern der Stadt und der Festung von Leicester ausmachen. In flottem Galopp hielten sie darauf zu. Jetzt war es bald geschafft! Sir James war heilfroh, dass er die Papiere ohne Zwischenfälle übergeben konnte. Er kannte den Inhalt nicht und wollte ihn auch nicht wissen, aber es musste sehr wichtig sein und die Verantwortung dafür hatte ihm schon etwas zu schaffen gemacht.
Sir James hätte gerne mit dem Ritter darüber gesprochen, aber der wusste auch nicht mehr als er selbst. Und auch sonst niemand. Er und sein Begleiter hatten selbst das Ziel des Rittes vor Außenstehenden geheim halten müssen. Nicht einmal Gerüchte hatte es gegeben, und das war besonders verdächtig, denn normalerweise war eigentlich immer reichlich Gemunkel über alles und jedes im Umlauf.
Dass es etwas mit der gerade stattfindenden Rebellion von König Henrys ältestem Sohn gegen den eigenen Vater zu tun hatte, war anzunehmen. Möglicherweise, oder sogar wahrscheinlich, würde es auf einen Krieg zwischen dem König und seinem Kronprinzen hinauslaufen. Beaumont, der Graf von Leicester, war ein Sympathisant des Kronprinzen und hatte ja schon versucht, England in einen Bürgerkrieg zu stürzen. Ein geschwächtes Land schwächte auch den König, und der revoltierende Prinz hätte bedeutend leichteres Spiel gehabt. Dieser Plan war fehlgeschlagen, Gott sei Dank, aber das war sicher nicht das einzige Eisen gewesen, dass der Königssohn im Feuer hatte.
Der Empfänger der geheimnisvollen Papiere, Herzog Edward de Tourneau, war ein Vertrauter des Königs und verfügte außerdem über ein beachtliches Heer, deshalb schloss Sir James auf einen Zusammenhang. Was aber genau da vor sich ging, ließ sich nicht einmal erahnen. Es musste allerdings etwas Ernstes, Gefährliches sein, wenn der König so einen Aufwand betrieb.
Doch warum musste der König ausgerechnet ihn mit da hineinziehen! Solche brisanten Angelegenheiten waren wahrhaftig nicht sein Ding. Er war Beamter, kein Krieger, also was gingen ihn die Kampfstrategien des Königs an? Normalerweise war er für die Verwaltung des Landes zuständig. Das war ein verantwortungsvoller Posten, auf den er auch sehr stolz war, denn ein Fehler konnte durchaus ernste Auswirkungen für das ganze Reich nach sich ziehen. Aber dabei ging es wenigstens nicht um Leben und Tod.
Nicht auszudenken, wenn diese Papiere in falsche Hände fallen würden! Schon der bloße Gedanke an die Folgen trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Er wäre nicht in der Lage gewesen, einen Überfall abzuwehren und der Begleitritter zu seinem Schutz war eigentlich nur Augenwischerei. Ein einzelner Mann wäre im Ernstfall kaum eine Hilfe, mochte er ein noch so guter Kämpfer sein.
Aber die unscheinbare Eskorte war natürlich bewusst so klein gehalten worden, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Man musste etwaige neugierige Spione ja nicht auch noch mit der Nase darauf stoßen, dass hier vielleicht etwas Wichtiges transportiert wurde. Der Trick hatte ja auch funktioniert, denn er hatte das Ziel unbehelligt erreicht. Auf einer gerodeten Fläche vor ihnen wimmelten rund um die Stadt Reiter und Fußsoldaten durcheinander, beschäftigt mit irgendwelchen, für Sir James unerfindlichen Tätigkeiten. Etwas weiter entfernt, in sicherer Entfernung von den Waffen der Verteidiger oben auf den Stadtmauern, standen dicht an dicht die Zelte und Hütten des Heerlagers.
Verteidiger wie Belagerer waren Engländer, hier kämpften Nachbarn, Freunde, sogar Verwandte gegeneinander. Weil der König es so wollte. In diesem Fall, weil ein Graf die Fronten gewechselt hatte, aber unter Umständen reichte auch einfach nur ein Streit zwischen benachbarten Adelssitzen aus für einen Kampf gegeneinander. Oder eine unterschiedliche politische oder religiöse Überzeugung. Irgendein Hitzkopf rief seine Männer zu den Waffen, um seine Meinung durchzusetzen, der andere zog nach und schon war ein Krieg im Gange. Für die Untergebenen gehörte der Waffendienst zur Lehnspflicht, niemand konnte sich weigern, auch nicht, wenn man möglicherweise gegen die eigene Verwandtschaft kämpfen musste.
Sir James und sein Begleiter hielten direkt auf das Heerlager zu. Sie sahen sich schon am Ziel, als plötzlich eine Gruppe von bis an die Zähne bewaffneten Reitern aus dem Wald brach und auf sie zuhielt. Der Ritter zog sofort sein Schwert und auch Sir James griff erschrocken nach seinem Dolch, in der Angst, im letzten Augenblick doch noch in einen Hinterhalt von Anhängern Graf Beaumonts geraten zu sein. Aber nach einem Blick auf die Waffenröcke der Reiter war klar, dass sie es nicht mit Feinden zu tun hatten. Die Wappen wiesen sie eindeutig als Männer des Herzogs aus, die zur Absicherung gegen Überraschungsangriffe die Umgebung überwachten.
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