Sir James schüttelte verständnislos den Kopf, als er das sah. Wie konnte der Mensch nach solch einem Ritt noch so fit sein?! Er selbst fühlte sich wie durch den Wolf gedreht und ausgespuckt, und dieser Ritter schwebte mitsamt seiner bleischweren Schutzausrüstung geradezu von seinem Pferd! Einen kurzen Moment musterte er sein eigenes, unübersehbares Bäuchlein und überlegte, ob er nicht mehr für seine Fitness tun sollte, doch dann zuckte er die Achseln. Wozu der Aufwand? Jedem das Seine. Er war nun einmal Beamter, also was sollte er mit Muskeln? Die seltenen Gelegenheiten, zu denen er sich tatsächlich einmal körperlich betätigen musste, würde er auch so überleben.
Er schob die lästigen Gedanken kurzerhand beiseite und beschäftigte sich stattdessen mit der momentan vordringlicheren Frage, was hier wohl zum abendlichen Mahl serviert wurde. Er hatte Hunger wie ein Bär! Voller Vorfreude übergab er sein nicht sehr umfangreiches Gepäck einem herbeieilenden Hausdiener und folgte dem Angestellten ins Haupthaus. Für seinen kurzen Aufenthalt war nicht viel Garderobe nötig. Außer seiner Reitkleidung brauchte er nur einmal elegante Kleidung, nämlich heute für das abendliche Mahl in der herzoglichen Festung.
Der Diener führte ihn durch die große Halle, wo sich drei elegant gekleidete Damen zum Gespräch in einem der Fenstererker auf gepolsterten Sesseln niedergelassen hatten und den Gast neugierig musterten. Sir James grüßte höflich und folgte dann seinem Führer, der einer breiten Steintreppe im Hintergrund zustrebte. Auch in dieser Festung befanden sich, wie allgemein üblich, die privaten Gemächer der Hausbewohner und die Räumlichkeiten für Hofmitglieder und Gäste in den oberen Stockwerken. Oben angekommen wandte sich der Diener nach links, einem nur spärlich von ein paar rußenden Fackeln beleuchteten Gang zu – der Flur zur Rechten war wohl dem Hausherrn und seiner Familie vorbehalten – und öffnete schließlich eine leicht knarrende, geschnitzte Tür.
„Euer Gemach, Herr. Es wurde schon vorbereitet.“
Alle Achtung, die Dienerschaft des Herzogs arbeitete tatsächlich schnell, dachte Sir James bei sich und trat neugierig ein. Tatsächlich brannten schon mehrere Kerzen in kunstvollen Leuchtern und verbreiteten ein sanftes, warmes Licht. Durch die Fenstereinsätze aus geschliffenen Hornscheiben drang nur noch wenig Helligkeit des scheidenden Tages in den Raum, da waren zusätzliche Lichtquellen schon angebracht. Ein Krug mit frischem Wasser stand griffbereit auf dem Waschtisch und die fein gewebte Tagesdecke auf dem Bett war einladend zurückgeschlagen.
Wohlgefällig sah er sich um, während der Diener die Taschen mit seiner Kleidung auf einer Truhe ablegte und sich mit einer Verbeugung zurückzog. Zwei mächtige, mit eisernen Nägeln verzierte Truhen für die Kleidung, ein geschnitzter Waschtisch mit Krug und Schale aus Steingut und ein kleiner Schreibtisch mit stoffbezogenem Hocker machten neben dem bequem aussehenden Bett die spärliche Möblierung aus. Eher behaglich und zweckmäßig eingerichtet als luxuriös, so verliehen die edlen Möbel und die reich bestickten Wandteppiche dem Raum doch eine gewisse Eleganz.
Außerdem gab es selbstverständlich den mächtigen Kamin für kalte Tage. Auch um diese Jahreszeit war der Raum recht kühl, trotzdem brannte der Kamin nicht, aber das hatte er nicht anders erwartet, denn das wertvolle Brennholz war für den Winter reserviert. Wirklich warm wurde es in einer Burg sowieso nie. Im Sommer drang die Sonnenwärme kaum durch die dicken Steinmauern mit den nur schmalen Fenstern und im Winter kam auch der Kamin nur dürftig gegen Kälte an, mochte der noch so groß sein und noch so gut befeuert werden.
Die privaten Räume waren üblicherweise klein, um die Wärme wenigstens zeitweise zu halten. Doch schon in geringem Abstand von der Feuerstelle entfernt fühlte man den eisigen Hauch, den die kalten Steinmauern abstrahlten. Außerdem zog es empfindlich durch die Ritzen unter den dicken Eichentüren und auch die Rahmen in den engen Fensteröffnungen waren nicht wirklich dicht.
Abhilfe gegen die Zugluft verschafften üblicherweise wollene Vorhänge und eine entsprechende Kleidung, und auch Sir James war passend ausgerüstet. Er entledigte sich seiner robusten Reitkleidung aus Leder und Leinen, wusch sich kurz und legte elegantere Gewänder für das abendliche Mahl an, ergänzt durch einen gefütterten, kunstvoll bestickten Überwurf. Auch wenn der Hausherr außer Haus war wie in diesem Fall, war es trotzdem selbstverständlich für anwesende Familienangehörige, Gäste und Ritter im Dienst des Burgherrn, sich zum gemeinsamen Mahl angemessen zu kleiden.
Sobald er fertig war, verließ Sir James sein Zimmer und ging hinunter in die große Halle. Die Sonne war inzwischen untergegangen und es war Zeit für die abendliche Zusammenkunft der in der Festung lebenden Ritter und ihrer Damen. Eben noch, bei seinem Eintreffen, war die Halle unmöbliert gewesen. Jetzt standen Tische in der Mitte, die von Hausknechten schnell aus einfachen Böcken und dicken Holzplanken errichtet worden waren. Holzbänke, tagsüber an den Wänden entlang platziert, wurden gerade an die Tische gezogen, als Sir James dazu kam und sich unter einige schon wartende Burgbewohner mischte. Da so ziemlich jeder der Anwesenden Interesse an Neuigkeiten, Klatsch und Tratsch aus London hatte, kam er schnell mit den Leuten ins Gespräch.
Währenddessen wurden im Hintergrund die Speisen aufgetragen. Es gab Fisch aus dem nahen Fluss, Wild, Eier, Hirsegemüse, Zwiebeln und rote Rüben, dazu ofenfrisches Brot, Käse und gekochte Früchte, und natürlich Bier in unbegrenzten Mengen. Ein verführerischer Duft zog durch den großen Raum und Sir James konnte sich endlich zusammen mit den anderen an die Tafel setzen, streng geordnet nach Rang und Herkunft. Sir James, dem hochrangigen Beamten, gebührte ein Ehrenplatz am oberen Ende der Tafel, gleich neben den Sitzplätzen, die dem Hausherrn und dessen Familie vorbehalten waren und heute unbesetzt blieben. Sein Begleiter saß weiter unten bei den Rittern der Burg.
Nach dem anstrengenden Ritt war er entsprechend hungrig, also griff er herzhaft zu und ließ sich die einfachen, aber gut zubereiteten Gerichte schmecken. Genüsslich kauend betrachtete er neugierig die übrigen Anwesenden, deren Stimmen und Gelächter eine fröhliche Stimmung an der Tafel verbreiteten. Es hatte sich eine recht ansehnliche Mannschaft an Rittern, teilweise begleitet von ihren Damen, in der Halle versammelt. Außerdem lebten in der Festung ja auch noch Männer, die nicht adeliger Herkunft waren und daher in der Gesindeunterkunft ihr Mahl einnahmen, und diejenigen, die jetzt gerade Wachdienst hatten. Der Herzog hatte eine eindrucksvolle Anzahl Kämpfer in seiner Burg und war ganz offensichtlich gut auf den Ernstfall vorbereitet.
Das war wohl auch nötig. Zusammen mit Richard de Lucy, dem Justiziar von König Henry II, war Herzog Edward einer der engeren Vertrauten des Königs hier in England. Und momentan war er außerdem der Hauptbefehlshaber über die Truppen, die gerade mit der Belagerung von Leicester beschäftigt waren. Graf Beaumont, der Herr von Leicester, befand sich ja leider nicht selbst in seiner belagerten Burg, sondern in Frankreich bei König Louis. Und von dort aus konnte er durchaus auf den Gedanken kommen, seine Freunde und Anhänger in England zu einem Gegenangriff zu mobilisieren und die Burg des feindlichen Kommandanten angreifen zu lassen. Der Herzog war also durchaus gut beraten, wenn er sich nicht nur auf die Einnahme von Leicester konzentrierte.
Nach dem Mahl nahm Sir James noch eine Weile an den Unterhaltungen der Anwesenden teil, die ihn neugierig über das gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt ausfragten. Aber er blieb nicht lange. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Ihn zwickte jetzt schon jeder Muskel und morgen stand ihm noch ein weiterer Ritt bevor. Also zog er sich, sobald es der Anstand zuließ, in sein Gemach zurück und ließ sich mit einem zufriedenen Seufzer auf sein angenehm weiches Bett sinken.
Читать дальше