Er hielt einen Ritter auf, der seinen Weg kreuzte, und schickte ihn los, die Auserwählten zu benachrichtigen. Die Männer sollten ihre Ausrüstung zusammenpacken und sich morgen noch vor Tagesanbruch, bei Dunkelheit, unauffällig nach Osten aus dem Lager schleichen und hinter dem Wald für den Abmarsch sammeln. Von dort aus konnten sie dann ungesehen aufbrechen.
Dann musste er nur noch seinem Kammerdiener Bescheid geben, der ihn, wie in aristokratischen Kreisen üblich, immer begleitete. Schließlich musste sich ja jemand um Kleidung und Waffen kümmern und das elegante Zelt in Ordnung halten. Auch jetzt würde sein persönlicher Diener natürlich mit zurück zu ihrer Festung bei Grantham kommen, aber nur er. Die übrigen Diener und Knechte, die er und sein Vater hier im Lager hatten, benötigte er für den kurzen Ausflug nicht. Zu Hause gab es mehr als genug Personal.
Robert freute sich über diese Unterbrechung der täglichen Routine im Heerlager. Sie waren jetzt schon eine ganze Weile hier vor Ort und auf die Dauer war so eine Belagerung eine recht langweilige Angelegenheit. Außerdem behinderte diese Strafaktion des Königs gegen den Grafen von Leicester seine eigenen Pläne, denn eigentlich hatte diesen Sommer seine Hochzeit mit Lady Joan Ashby, der Schwester von Graf Brian, stattfinden sollen. Das konnte Robert jetzt erst einmal vergessen. Der Befehl des Königs hatte Vorrang und solange Leicester nicht eingenommen war, konnte er sich nicht um persönliche Belange kümmern.
Zum Leidwesen seiner Verwandtschaft hatte er ausgerechnet eine Angelsächsin ausgewählt. Zugegeben, für ein Mitglied des normannisch-stämmigen Hochadels war das tatsächlich recht ungewöhnlich. Üblicherweise bewegten sich Angelsachsen und Normannen in ihren eigenen Kreisen und pflegten wenig gesellschaftliche Kontakte untereinander. England war sozusagen zweigeteilt. König Henry gab sich alle Mühe die Völker zu vereinen und versuchte, die seit der Eroberung der Insel durch Wilhelm den Eroberer praktizierte Bevorzugung der siegreichen Normannen abzuschaffen. Er hatte für Alle gleichermaßen gültige Gesetze eingeführt, doch leider reichten Gesetze alleine nicht aus, und in der Praxis konnte er damit bisher noch keine großen Erfolge verzeichnen.
Für die Normannen bestand allerdings auch wenig Anreiz für eine Gleichstellung mit den unterdrückten Angelsachsen, denn dann würden sie ja ihre uneingeschränkte Vormachtstellung verlieren. In der Oberschicht gaben sie den Ton an, schon weil nach den langen Jahren normannischer Herrschaft nur noch wenige Adelige angelsächsischer Herkunft übrig geblieben waren, die den großspurigen Normannen Paroli bieten konnten. Und jetzt sollten die Angelsachsen nach König Henrys Willen plötzlich gleichberechtigt sein? Da fiel die Annäherung doch etwas schwer, auf beiden Seiten. Die eingefahrenen Gewohnheiten der Vergangenheit, und die schlechten Erfahrungen der Unterdrückten, saßen einfach zu tief.
Erst in der jüngeren Generation setzte ganz langsam ein Umdenken ein. Robert, der eine weltoffene, tolerante Erziehung genossen hatte, sah in der Abstammung eines Menschen, ebenso wie sein Vater, kein Problem. Seine Ehefrau würde ihm gleichgestellt sein, war sie nun Angelsächsin oder nicht. Mochte die missgünstige Verwandtschaft doch denken, was sie wollte.
Der Aufenthalt zu Hause gab ihm die willkommene Möglichkeit, seiner Verlobten einen Besuch abzustatten. Schade nur, dass er die Schnelligkeit seines Pferdes nicht nutzen konnte, sondern auf das langsame Tempo der Bauern Rücksicht nehmen musste. Immerhin waren die Männer am nächsten Morgen pünktlich am Treffpunkt und sie konnten ohne Verzögerung aufbrechen, sobald die Helligkeit des neuen Tages für den Marsch über den unebenen Boden ausreichte. Der Weg war weit, aber wenn man zeitig aufbrach und zügig marschierte, konnte man Grantham zu Fuß durchaus an einem Tag erreichen. Ein Nachtlager war nicht geplant und sie hatten auch keine Zelte oder Decken mitgenommen, da das zusätzliche Gewicht nur das Marschtempo verringern würde.
Robert gab von Anfang an ein ordentliches Tempo vor, sonst würden sie Mühe haben, das Ziel vor Dunkelheit zu erreichen. Zum Schutz der Gruppe hatte er auch einige kampferprobte Ritter aus Sir Edwards Gefolge mitgenommen, die mit ihren Pferden neben der Reihe entlang ritten. Zu leicht könnten sonst irgendwelche Sympathisanten des Kronprinzen auf den Gedanken kommen, die Truppe zu überfallen, um so das königliche Heer ein wenig zu dezimieren. Davon abgesehen würde Robert, als Sohn des Heerführers, eine gute Geisel für die Gegner abgeben, und darauf konnte er gut verzichten.
Es wurde ein langer Tag über staubige Waldwege, felsige Hügel und durch sumpfige Flussauen. Die Sonne, nur selten von ein paar zarten Schleierwolken gedämpft, zeigte sich von ihrer besten Seite und selbst im schattigen Wald wurde es schnell drückend warm. An harte Feldarbeit in der Sommerhitze waren die Bauern gewöhnt, doch ausgedehnte Fußmärsche gehörten üblicherweise nicht zu ihrem Tageswerk. Schnell klagten die ersten über Blasen und Druckstellen, und einige zogen sich bei Stürzen Schürfwunden zu, wenn sie erschöpft über eine Wurzel oder einen Stein stolperten. Die Kolonne zog sich zusehends auseinander, und obwohl sie mehrere kurze Pausen einlegten, hatten Robert und seine Ritter alle Hände voll zu tun, die müden Nachzügler immer wieder anzutreiben.
Kurz vor Sonnenuntergang erreichten sie endlich die Ländereien von Grantham und nach und nach verließen die Männer, die ihre Farmen in der durchwanderten Gegend hatten, die Gruppe. Es wurde immer dunkler, aber jetzt war es nicht mehr weit. Außerdem befanden sie sich auf bekanntem Gebiet, die Meisten kannten das Gelände und den ausgetretenen Weg recht gut und das machte einen Marsch im schwindenden Licht leichter.
Die Gruppe schrumpfte zusehends zusammen, dann passierten sie die Stadt Grantham und wandten sich der schwach beleuchteten Silhouette der herzoglichen Festung zu, die im Halbdunkel vor ihnen auftauchte. Neben den Rittern waren nur noch eine Handvoll Bauern übrig, die ihre Felder am anderen Ende der herzoglichen Ländereien hatten. Robert beschloss, sie mit in die Burg zu nehmen und ihnen dort ein Nachtlager im Gesindetrakt zu geben. Sie konnten ihre Heimreise morgen fortsetzen, ohne die Gefahr sich im Finstern die Beine zu brechen oder die Köpfe an tief hängenden Ästen einzurennen.
Robert hatte einen Reiter vorausgeschickt, der ihr Kommen angekündigt hatte, trotzdem war die Zugbrücke hochgezogen. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn nach Sonnenuntergang konnten die Wachen nicht genau erkennen, ob wirklich der Hausherr nahte oder vielleicht eine Abteilung Feinde. Kaum in Hörweite wurden sie sofort von den Wachleuten angerufen. Erst als Robert sich zu erkennen gab, senkte sich die Brücke mit lautem Getöse und sie konnten den Burggraben passieren. Das Fallgitter auf der anderen Seite allerdings blieb unten und wurde erst hochgezogen, nachdem der Hauptmann der Wachen Robert im Licht einiger Fackeln genau in Augenschein genommen und identifiziert hatte.
„Sir Robert, willkommen zu Hause.“ Der erfahrene Kämpfer war schon einige Jahre im Dienst des Herzogs und gehörte inzwischen fast zur Familie. Er nahm seine Aufgabe sehr ernst und eben deshalb hatte Herzog Edward ihm den Schutz der Festung übertragen.
„Danke, Sir Charles. Es tut gut, das Zeltlager für eine Weile gegen feste Mauern einzutauschen. Hat es irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle gegeben?“
„Nein.“ Der Ritter schüttelte den Kopf. „Nur die üblichen Sachen: Ein Händler wollte uns schlechte Waren andrehen, zwei Bauern aus dem Dorf Oakhill streiten sich um einen Ochsen und in den westlichen Hügeln haben sich Wegelagerer niedergelassen und überfallen die Durchreisenden.“
Robert grinste. „Also alles wie immer. Den Alltagsproblemen ist es egal, ob man vielleicht anderweitig beschäftigt ist.“
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