Nunoc Baryth fühlte sich ratlos. Was sollte er tun? Er durfte Athlan nicht weiter ausbilden, so viel schien klar – gleichgültig ob der Novize an einer Wahnvorstellung litt oder wirklich der war, für den er sich ausgab. Seine magische Kraft nahm von Tag zu Tag zu. Doch wenn er den Jungen des Klosters verwies, beraubte er sich jeden Einflusses auf ihn. Die anderen Oberen des Ordens bedrängten ihn, Semanius alias Athlan Gadennyn zu verstoßen. Sie fürchteten, er könne die Macht an sich reißen. Schweren Herzens befolgte der Abt ihren Rat. Er teilte Athlan mit, er müsse das Kloster verlassen. Der junge Magier zeigte sich gekränkt und wütend, aber er ging.
In den vergangenen Jahren versuchten wir immer wieder, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Wir wollten wissen, was aus ihm geworden ist. Deshalb schickte Nunoc Baryth von Zeit zu Zeit Kundschafter nach Koridrea. Und sie berichteten, dass Athlan inzwischen das Erbe seines Vaters angetreten hatte und als Lord die Provinz Shoala regierte, doch er verhielt sich unauffällig und ruhig, schien sich als besonnener, um das Wohl seiner Untertanen besorgter Fürst zu erweisen. Es gab keinerlei Anzeichen von Machtgier oder Eroberungsgelüsten. Nunoc zeigte sich erleichtert. Doch dann, vor nicht allzu langer Zeit, kam ein Mann aus dem Süden mit koridreanischem Akzent in unser Kloster – Gother, wie sich nun herausgestellt hat. Ich fasste den Verdacht, er sei ein Spion, und Nunoc sandte ihm deshalb einen Schwarzen Kämpfer nach, der herausfinden sollte, für wen Gother spionierte. Natürlich ahnten wir es schon. Als unser Mann nicht mehr zurückkehrte, schien es Gewissheit zu sein: Lord Gadennyn hatte seine Aufmerksamkeit auf uns gerichtet. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Wir verschärften unsere Wachsamkeit, konnten aber dennoch nicht verhindern, dass ihr unseren Abt getötet habt!“
Am Schluss klangen seine Worte bitter. Die Gefährten schwiegen betreten.
Nach einer langen Pause erklärte Traigar: „Ich schwöre den Eid.“
Eine Weile danach warteten die Gefährten auf Geheiß Gormen Helaths auf dem Klosterhof, wo die Feier nach der Zeremonie der Vereidigung stattfinden sollte. In graue Kutten gekleidete Mönche und Nonnen – es gab nicht wenige Frauen unter den Bewohnern des Klosters – trugen Stühle und Tische nach draußen und deckten sie mit Tellern und Bechern. Aus dem Fenster der großen Küche drangen Gerüche, die den Koridreanern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Sie konnten sich kaum an ihr letztes Mahl erinnern, das sie an einem Tisch eingenommen hatten. Doch das musste noch warten, denn zuvor sollten sie den Eid leisten. Die Gefährten fühlten sich etwas nervös, denn sie wussten nicht genau, was sie erwartete. Der zukünftige Abt hatte von einer heiligen Zeremonie gesprochen, von einem Versprechen, das sie nicht ihm, Gormen Helath, sondern Wathan, dem Höchsten, persönlich geben müssten. Sie sollten ihre Gedanken reinigen und sich bewusst machen, dass dieser Schwur ihr Leben ändern würde, hatte er nachdrücklich erklärt. Sie sollten ihn nicht leichtfertig leisten.
Duna, die Feuermagierin, näherte sich ihnen. Traigar hatte zum ersten Mal Muße, sie genauer zu betrachten. Sie trug eine graue Kutte, deren Kapuze sie zurückgeschlagen hatte. Die junge Frau von zierlicher Gestalt besaß langes braunes Haar, haselnussfarbene Augen, ein herzförmiges Gesicht mit einem Grübchen am Kinn. Die gerade Nase schien ein wenig zu lang, die Mundwinkel hatte sie mürrisch leicht herabgezogen. Zu seiner Bestürzung bedeckten einigen rote Tätowierungen die gerunzelte Stirn und die Schläfen, jene seltsamen Zeichen, die auch die anderen Schwarzen Mönche und Kämpfer trugen.
Duna musterte die Menschen aus Koridrea misstrauisch. Sie schien sie nicht zu mögen. Kein Wunder, zeigten sie sich doch für den Tod des verehrten und geliebten Abts, Nunoc Baryth, verantwortlich.
„Gormen hat gesagt, ich soll eure Fragen beantworten, falls ihr noch welche habt, und euch die Zeremonie erklären. Fragt also“, erklärte sie barsch.
Cora ergriff das Wort.
„Du bist traurig und zornig, das sieht man. Es wäre vermessen von uns, wenn wir dir versicherten, wie wir das alles bedauern. Es würde deinen Schmerz nicht lindern. Ich weiß, du kannst uns jetzt nicht vergeben. Ich könnte es an deiner Stelle ebenso wenig.“
„Und was willst du, das ich tun soll?“
„Gar nichts. Verfluche und beschimpfe uns. Hasse uns ruhig eine Weile. Uns ginge es an deiner Stelle vermutlich nicht anders. Trauere um Nunoc Baryth. Der Schmerz wird nach und nach vergehen, und vielleicht kannst du uns irgendwann verzeihen.“
Duna blickte sie an.
„Ich hasse euch nicht. Aber ich kann auch keine Freundschaft für euch empfinden. Das werde ich vielleicht niemals können. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Nun stellt eure Fragen.“
Die Gefährten schwiegen einen Augenblick betreten. Schließlich ergriff Spin das Wort:
„Wir wissen noch viel zu wenig über Euch, um den Treueid in voller Überzeugung ablegen zu können. Dies ist kein Orden, wie ich ihn aus Koridrea kenne. Dort leisten alle dem Pridemus Gehorsam. Ich sehe aber in diesem Kloster Männer und Frauen. Der Stellvertreter Wathans hat aber, soweit ich weiß, gemischte Orden verboten. Er sagt, dies leiste Unkeuschheit Vorschub.“
„Wir erkennen den Pridemus nicht als Stellvertreter Wathans an. Die Pridemi der Vergangenheit haben gezeigt, wie fehlbar sie sind. Von den Sünden, die sie begangen haben, scheint mir Unkeuschheit noch die harmloseste! In unserem Orden dienen Frauen und Männer Wathan, dem Erhabenen. Sie arbeiten, beten und essen zusammen. Nur zum Schlafen ziehen sie sich in getrennte Häuser zurück.“
Spin nickte. Traigar stellte die nächste Frage:
„Hier gibt es in Grau gekleidete Ordensbrüder und -schwestern ebenso wie solche in schwarzen Roben. Manche sind tätowiert wie du und Gormen Helath, andere tragen keine Zeichen. Was hat es denn damit auf sich?“
„Nicht alle in unserer Gemeinschaft fühlen sich dazu berufen, für Wathan auf andere Weise zu kämpfen als mit Worten. Dennoch steht das Kloster jedem offen, der Gott dienen will. Nur diejenigen, die bereit sind, die Gründungsregeln unseres Ordens ohne Einschränkung zu befolgen und eine schwere Prüfung bestehen, dürfen Schwarz anlegen und die roten Zeichen tragen. Normalerweise ist dafür eine jahrelange Ausbildung erforderlich.“
„Aber du trägst sie doch ebenfalls“, warf Traigar ein. „Es ist noch kein Jahr her, da habe ich dich in Shoal gesehen. Da warst du noch nicht tätowiert. Außerdem bist du viel zu jung, um eine langjährige Ausbildung erhalten zu haben. Du trägst auch keine schwarze Kutte. Wie kannst du dann zum Schwarzen Orden gehören?“
Duna runzelte die Stirn und musterte ihn neugierig.
„Ja, jetzt erinnere ich mich wieder an dich. Auf dem Gauklerwettbewerb, nicht wahr? Du warst gut! Ich habe dich nicht erkannt, denn damals warst du ziemlich mager und sahst viel jünger aus.
Du hast recht: Ich gehöre den Schwarzen Kämpfern an. Ich habe mich damals nach Vulcor eingeschifft, weil ich hörte, im Norden werde die Magie noch nicht als Makel betrachtet, den man verstecken muss. Ich wollte sie ausüben, ohne Angst und Scham. In Helmseth traf ich einen Schwarzen Mönch. Allerdings trug er eine graue Kutte, die sein Haupt verhüllte. Er schien mich zu durchschauen und sprach mich an. In seinem Kloster, so versicherte er, gebe es einen Platz für mich. Magier seien in seinem Orden hoch geachtet. Nun, ich wollte mein Leben nicht unbedingt als Nonne beenden, aber er überredete mich, mit ihm zu kommen. Als ich seinen Herrn, Nunoc Baryth, traf, lernte ich zum ersten Mal einen Menschen kennen, dem ich vorbehaltlos vertraute. Er war … ich kann es nicht beschreiben. Du hättest ihn kennen lernen sollen! Aber …“
Sie brach ab und schluckte. Eine Träne rollte über ihre Wange. Für einen kurzen Moment blitzen ihre Augen Traigar böse an. Doch dann fasste sie sich wieder und fuhr fort:
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