Weil ich eine ganze Zeit nach einem Krankenhausaufenthalt recht ungeschickt war, ist mir die Tücke der Objekte besonders aufgefallen. Hosen beispielsweise, Hosen! Für deren Tücke gibt es einen frühen Beleg. Samuel Pepys schreibt am 6. April 1661 in sein Tagebuch: “Mr. Townsend erzählte mir ein Missgeschick, dass er nämlich kürzlich mit beiden Beinen durch ein Hosenbein gestiegen und so den ganzen Tag herumgelaufen ist.”
Ich habe mir das Zitat herausgeschrieben, damals, als die Dinge mir noch gehorchten, weil mir die Sache so absurd erschien. Doch was muss ich sagen? Seit Wochen bietet sich mir bei jeder Umkleide das falsche Hosenbein an. Und irgendwie fehlt mir die spleenige Souveränität, den ganzen Tag so herumzulaufen wie dieser Mr. Townsend.
Bei den Mahlzeiten in der Kurklinik sehe ich einen Schlosser aus dem Ruhrgebiet, einen Koloss von Mann, der einen gewaltigen Bauch vor sich herschiebt, groß und kugelig wie ein Sitzball. Erstmals tauchte er in der Sporttherapiegruppe auf, wo er sogleich ungefragt herumtönte, warum er so fürchterlich dick wäre, quasi als Legitimation für sein Schnaufen und Stöhnen. Er habe vor ein paar Jahren wegen einer Vergiftung im Krankenhaus gelegen und da 45 Kilo zugenommen. Auch die anderen Pfunde wären ihm ohne eigenes Zutun tückischer Weise an den Leib geflogen und hätten sich festgesetzt. Ich habe vergessen wie, es lag aber nicht an den Drüsen. Seine wortreiche Erklärung mochte ich gar nicht hören. Er stahl uns nur die Zeit. Sie war sowieso gelogen, wie ich zuerst vermutete, später aber im Speiseraum sah, wo er sich gewaltige Portionen einverleibte. Als er einmal schnaufend mit seinem vollgeladenen Tablett vom Buffet herankommt und droht, sich an meinem Tisch niederzulassen, schiebe ich meinen Stuhl nach hinten, um zu gehen. Denn ich habe keine Lust, mir seine lauthals verkündeten gestiegenen Blutzuckerwerte anzuhören, derweil er einen kleinen Eimer Marmelade vertilgt. Ich schiebe also den Stuhl nach hinten. Aber auch Stühle machen längst nicht mehr, was ich will. Er hakt zunächst in den Fugen der Bodenfliesen, so dass ich stärker rücke. Da schnellt er nach hinten, dem Dicken in die Beine, der aber nur „WAS…?!!!“ ruft und über einen frisch am Nebentisch geparkten Rollator stolpert, weil er sein Tablett balanciert und es keinesfalls fallen lassen will. Auf dem Rollator steht aber auch ein Tablett. Eine ungefüge, verlebte Blondine, die sich kleidet wie eine kleine Maus und immer beteuert, sie sehe jünger aus als sie sei, hat geglaubt, mit dem Rollator könnte sie gefahrlos ihr Frühstückstablett befördern und hätte gleichzeitig noch eine Stütze für sich. Deren Frühstückstablett kippt, schlägt hoch, dem Dicken ergießt sich der Kaffee auf die Hose, weshalb er, der sich gerade gefangen hat, grunzt wie ein abgestochenes Schwein. Kann ich verstehen. Auch ich hasse Kaffee auf der Hose, besonders heißen Kaffee. Unverständlich bleibt aber, warum der Dicke jetzt doch noch strauchelt und fällt und zwar bäuchlings auf den Nebentisch, da alles plattwalzt und hinwegfegt, was die vier entsetzten Leute rundum den Tisch eigentlich hatten essen und trinken wollen. Tabletts scheppern, Geschirr klirrt, Teller, Tassen und Gläser zerschellen am Boden, Marmelade, Schinkenwurst und Käsescheiben liegen im Gemenge aus Joghurt, Brot, Kaffee und Orangensaft und mittendrin in der Sauerei wälzt sich der Dicke und hat ein hart gekochtes Ei im Mund, auf der Stirn klebt eine Scheibe Schinkenwurst. So also fliegen die hundsgemeinen Kilos ihn an!
Ich bringe mein leeres Tablett weg. Ein Blick hat genügt, mich von jeglicher Schuld freizusprechen: Er trägt Badelatschen.
Mir träumte, dass ich an einer Schreibmaschine saß und tippte. Plötzlich hing mein rechter Zeigefinger an der K-Taste fest. Ihr Typenhebel hatte sich durch die Haut meiner Fingerkuppe geschoben. Ich zog und zog, die Haut der Fingerkuppe zerrte sich lang, doch es nutzte nichts. Der Finger kam nicht mehr von der Taste los. Im Traum dachte ich, wenn ich den Bericht vom verhakten Finger in meinen Text einfüge, wird sich manch Leser wundern.
Dak ick jedock nickt träumkte, an welchem Text ich schrieb, ist der Bericht von meinem an der K-Taste verhakten Zeigefinger nicht in einen Text eingefügt, sondern steht am Anfang.
Ich fuhr mit dem Rad die Straße hoch. Oben auf der Dachterrasse sah ich meine Hemden, wie sie im Wind flatterten, sich bauschten und wie Drachen aufsteigen wollten in den blauen Himmel. Viel lieber würde ich jetzt bei ihnen sitzen und ihr Trocknen überwachen, statt den Kopf unter der blitzenden Sonne zu beugen und mich den Anstieg hinauf zu mühen. Man hat von der Dachterrasse einen schönen Blick über die Dächer Stadt bis hin zum Höhenrücken des Stadtwaldes.
Mit der Fähigkeit der Bilokation säße ich jetzt auf der Dachterrasse, meine Hemden schaukelten im Wind, und ich läse ein Buch. Einmal ließe ich das Buch sinken und sähe durch das Laub der Bäume hinunter auf die Straße. Dann dächte ich, wenn ich jetzt dort unten die Straße hoch führe, der blitzenden Sonne entgegen, könnte ich allerlei erleben.
Wieso hing mein Finger eigentlich ausgerechnet an der K-Taste? Was ist Besonderes am K? Im Alphabet ist es der 11. Buchstabe. Ursprünglich war er der 10., denn das im Alphabet voran stehende „I“ war ein Halbvokal, konnte als „i“ oder als „j“ gelesen werden, je nach Kontext. Erst später wurde das Zeichen für den Laut „j“ eingeführt, um dem faulen Leser zu ersparen, dass er sich über die Lautung von "I" Gedanken machen musste.
Wörter mit K sollen lustig sein: Karambolage, Knüppel, Kindertagesstätte, Kilogramm, Kartoffelpuffer, Kischererbsen, Kaffeepause …
Wenn der rechte Zeigefinger an der K-Taste festhängt, muss man mit der Finger der linken Hand um den rechten Zeigerfinger herumtippen. „Kopf“ zu tippen ist schon schwierig. Noch schwerer hat man es mit „Köln“. Ganz schwer um das K herum zu tippen ist „Plöm“. Glücklicher Weise gibt es dieses Wort nicht.
Das wären in etwa meine Gedanken, säße ich nicht auf der Dachterrasse, sondern führe die Straße hoch. Böge ich nach rechts in die Vaalser Straße ein, könnte ich endlich den Kopf wieder heben, weil die Sonne mich nicht mehr blendet. Da hält ein Gelenkbus am Westfriedhof, und eine große Gruppe feingemachter Holländer steigt aus. Man ist gut gelaunt und versammelt sich auf dem Fahrradweg. Klingeln oder "Platz da!", rufen will ich nicht, denn der Schutz der Straßenverkehrsordnung gilt selbst für Holländer. Mir geht auch die unbestreitbare Weisheit eines Palindroms durch den Kopf: EINE HORDE BEDROHE NIE
Erst als ich genötigt wäre, eine hübsche blonde Frau im schwarzen Kostüm und auf Pumps umzufahren, klingele ich doch. „Ah!“ tönt es ringsum, „dit is een fietspaad!“, und freundlich lächelnd macht man mir Platz. Holländer respektieren den Fietspaad, er ist ihnen heilig.
Tatsächlich weht der Wind eines meiner Hemden vom Wäscheständer. Zum Glück ist es fast trocken. Das andere auch, fühle ich. Es ist still im Haus. Der Bewohner der Dachwohnung ist offenbar nicht zu Hause. Unterm Dach zu wohnen, ist ein Wagnis. Nicht nur der Hitze im Sommer wegen. Man hat dort seltsame Gedanken. „Attic thoughts“. Eine LP des schwedischen Komponisten und Keyboarders Bo Hanson heißt so. „Gedanken aus der Dachstube“. Die Musik ist den Geschichten des wahnsinnigen H. P. Lovecraft gewidmet. Seine Erzählung „Die Musik des Erich Zann“ erzählt von einem Geiger, der eine Dachstube bewohnt und mit seiner Geige wilde sphärische Klänge zaubert, die nicht von dieser Welt sind. Erich Zann hat ungewollt Kontakt zu jenen uralten Wesen, die vor Äonen aus dem Weltall auf die Erde kamen und tief unter uns leben, eine namenlose Bedrohung, die man dort spürt, wo die Realität ein wenig dünner ist als an anderen Stellen, zum Beispiel in Dachstuben.
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