Titelseite Jules Verne Der Kurier des Zaren Erster Band und zweiter Band
Erstes Kapitel - Ein Fest im Neuen Palais
Zweites Kapitel - Russen und Tartaren
Drittes Kapitel - Michael Strogoff
Viertes Kapitel - Von Moskau nach Nishny-Nowgorod
Fünftes Kapitel - Eine Verordnung mit zwei Artikeln
Sechstes Kapitel - Bruder und Schwester
Siebentes Kapitel - Auf der Wolga stromabwärts
Achtes Kapitel - Die Kama stromaufwärts
Neuntes Kapitel - Tag und Nacht im Tarantaß
Zehntes Kapitel - Ein Unwetter in den Uralbergen
Elftes Kapitel - Reisende in Not
Zwölftes Kapitel - Eine Herausforderung
Dreizehntes Kapitel - Die Pflicht über alles!
Vierzehntes Kapitel - Mutter und Sohn
Fünfzehntes Kapitel - Der Barabinen-Sumpf
Sechzehntes Kapitel - Eine letzte Anstrengung
Siebenzehntes Kapitel - Bibelsprüche und Liederverse
Erstes Kapitel - Ein tartarisches Feldlager
Zweites Kapitel - Alcide Jolivet's Haltung
Drittes Kapitel - Schlag für Schlag
Viertes Kapitel - Der siegreiche Einzug
Fünftes Kapitel - Nun sieh' Dich um
Sechstes Kapitel - Ein Freund unterwegs
Siebentes Kapitel - Die Überschreitung des Jeniseï
Achtes Kapitel - Ein Hase, der über den Weg läuft
Neuntes Kapitel - In der Steppe
Zehntes Kapitel - Baikal und Angara
Elftes Kapitel - Zwischen zwei Ufern
Zwölftes Kapitel - Irkutsk
Dreizehntes Kapitel - Ein Kurier des Zaren
Vierzehntes Kapitel - Die Nacht vom 5. zum 6. October
Fünfzehntes Kapitel - Schluß
Jules Verne
Der Kurier des Zaren
Erster Band und zweiter Band
ERSTER BAND
Erstes Kapitel - Ein Fest im Neuen Palais
»Sir, eine neue Depesche.
– Von woher?
– Aus Tomsk.
– Über diese Stadt hinaus ist die Leitung unterbrochen?
– Sie ist seit gestern gestört.
– General, Sie werden von Stunde zu Stunde ein Telegramm von Tomsk einfordern und mich auf dem Laufenden erhalten.
– Zu Ew. Majestät Befehl«, antwortete der General Kissoff.
Diese Worte wurden gegen zwei Uhr morgens gewechselt, als ein im Neuen Palais abgehaltenes Fest eben in höchstem Glanze strahlte.
Die Kapellen der Regimenter von Preobrajensky und von Paulowsky spielten zu dieser Soirée die gewähltesten Nummern ihres Repertoires, Polkas, Mazurkas, Schottische und Walzer, ununterbrochen auf. Immer neue Paare von Tänzern und Tänzerinnen rauschten durch die prächtigen Salons dieses Palastes, der sich nur wenige Schritte entfernt von dem »alten Hause aus Stein« erhebt, in welch' letzterem sich so viele furchtbare Dramen abgespielt haben und das jetzt nur die flüchtigen Melodien der Quadrillen wiederhallte.
Der Oberhofmarschall fand bei Erfüllung seiner delikaten Pflichten sehr beachtenswerte Unterstützung. Die Großfürsten selbst, deren Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst und die Hausoffiziere des Palastes unterzogen sich des Arrangements der Tänze. Die von Diamanten strahlenden Großfürstinnen und die Hofdamen in gewähltester Galatoilette gingen den Frauen und Töchtern der höchsten Militär- und Zivilbeamten mit aufmunterndem Beispiel voran. Als das Signal zur Polonaise ertönte, als die Eingeladenen jedes Ranges herbeieilten zu dieser rhythmischen Promenade, welche bei derartigen Festlichkeiten die volle Bedeutung eines Nationaltanzes erlangt, da bot das Gemisch der langen, spitzenüberwebten Roben und der an Ordensschmuck so reichen Uniformen bei dem Glanze der hundert Kronleuchter, deren Lichtmeer die ungeheuren Spiegel noch zu verdoppeln schienen, dem Auge ein entzückendes, kaum zu beschreibendes Bild.
Dazu lieferte der große Salon, das schönste der Gemächer im Neuen Palais, für diese Versammlung hoher und höchster Personen und verschwenderisch geschmückter Frauen einen entsprechend prachtvollen Rahmen. Die reiche Decke mit ihren von der Zeit schon etwas gemilderten Vergoldungen erschien wie besäet mit blitzenden Sternen. Der Brokat der Gardinen und der in schweren Falten herabfallenden Portièren färbte sich mit warmen Tönen, welche sich nur an den schärferen Kanten des kostbaren Stoffs lebhafter heraushoben.
Durch die Scheiben der großen Rundbogenfenster drang das Licht des Innern nur wenig geschwächt, ähnlich dem Wiederschein einer Feuersbrunst, nach außen, und stach grell ab von dem nächtlichen Dunkel, das seit wenig Stunden diesen glitzernden Palast umhüllte. Dieser Kontrast mochte auch die Aufmerksamkeit zweier Ballgäste erregen, welche am Tanze keinen Anteil nahmen. In einer der Fensteröffnungen stehend, konnten sie mehrere jetzt nur undeutlich sichtbare Glockentürme wahrnehmen, deren riesige Silhouetten sich am Himmel abzeichneten. Unten bewegten sich schweigend, das Gewehr waagrecht über die Schulter gelegt, zahlreiche Wachtposten auf und ab, und auf den Spitzen ihrer Pickelhauben blitzte es dann und wann von dem darauf fallenden Lichte aus dem Palaste. Jene vernahmen wohl auch den Schritt der Patrouillen auf den Steinplatten des Vorplatzes, der gewiss taktgerechter war, als manchmal die Bewegungen der Tanzenden auf dem Parket des Festsaales. Dann und wann hörte man den Zuruf der Schildwachen von Posten zu Posten und manchmal mischte sich ein hellschmetterndes Trompetensignal harmonisch mit den Akkorden des Orchesters.
Noch weiter unten erschienen dunkle Massen in den ungeheuren von den Fenstern des Neuen Palais ausgeströmten Lichtkegeln. Das waren Schiffe, die auf dem Strome herabglitten, dessen Wellen, überstrahlt von den grellen Lichtbündeln mehrerer kleiner Leuchtfeuer, den Fuß der Terrassen des Palastes bespülten.
Die Hauptperson des Balles, der Festgeber des heutigen Abends, dem gegenüber General Kissoff jene nur den Souveränen zukommende Anrede benutzte, erschien einfach in der Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Seinerseits lag hierin keine Affektation, sondern die Gewohnheit eines Mannes, der für äußeren Pomp wenig empfindlich ist. Seine Erscheinung kontrastierte demnach mit den prachtvollen Kostümen, die sich um ihn drängten, und ebenso zeigte er sich auch gewöhnlich inmitten seiner Eskorte von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, jener prächtigen Reiterleibwache in den brillanten Uniformen des Kaukasus.
Jener hochgewachsene Mann mit freundlichem Gesicht, ruhiger Physiognomie, aber bisweilen sorgenvoller Stirn, ging leutselig von einer Gruppe zur andern, sprach aber wenig und schien selbst weder den heitern Gesprächen der jüngeren Welt eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, noch den ernsteren Worten seiner höchsten Staatsbeamten oder der Mitglieder des diplomatischen Corps, welche die Hauptstaaten Europas an seinem Hofe vertraten. Zwei oder drei dieser scharfsichtigen Politiker – geborene Physiognomiker, – glaubten auf dem Antlitz ihres hohen Wirths einige Zeichen von Unruhe bemerkt zu haben, deren Ursache ihnen zwar unerklärlich blieb, aber ohne dass Einer derselben sich erlaubt hätte, eingehender danach zu forschen. Auf jeden Fall lag es, daran war gar nicht zu zweifeln, in der Absicht des Offiziers der Gardejäger, durch seine Geheimnisse die Festesfreude in keiner Weise zu beeinträchtigen, und da er einer der seltenen Fürsten war, dem fast eine ganze Welt, sogar im Gedanken, zu gehorchen sich gewöhnt hatte, so wurden auch die Vergnügungen des Balles nicht einen Augenblick unterbrochen.
Indessen wartete General Kissoff von dem Offizier, dem er das Telegramm ans Tomsk überreicht hatte, auf die Erlaubnis sich zurückziehen zu dürfen; aber jener verharrte in Schweigen. Er hatte das Blatt angenommen, durchlesen und mehr und mehr Wolken lagerten sich auf seine Stirn. Unwillkürlich fasste seine Hand nach dem Degengriff und erhob er diese wieder bis an die Augen, welche er einen Augenblick bedeckte. Es schien, als blende ihn der Schein der tausend Flammen und als suche er etwas Schatten, um besser in sein Inneres blicken zu können.
Читать дальше