Indes wird man bei näherer Betrachtung sehen, dass sie die Tatsachen und ihre Konsequenzen meist auf besondere Art und Weise ansahen, da sie eben jeder seine besondere Manier hatten, zu sehen und zu urteilen. Da sie jedoch stets mit Freimuth handelten und bei jeder Gelegenheit ihr Möglichstes taten, so würde man Unrecht tun, sie deshalb zu tadeln.
Der französische Korrespondent hieß Alcide Jolivet. Harry Blount war der Name des englischen Reporters. Sie begegneten sich eben zum ersten Male bei dem Feste im Neuen Palais, über welches sie ihren Journalen Bericht erstatten wollten. Die Verschiedenheit ihres Charakters in Verbindung mit einer gewissen Geschäftsvorsicht, konnte ihnen nur wenig gegenseitige Sympathie einflößen. Jedoch, sie vermieden sich deshalb nicht, ja, sie suchten sich sogar, um Einer dem Anderen die Neuigkeiten des Tages abzulocken. Sie waren Alles in Allem zwei Nimrods, die auf dem nämlichen Gebiete jagten. Was der Eine fehlte, konnte ja dem Anderen zum Schusse gelegen kommen und ihr Interesse verlangte es, dass sie immer soweit Fühlung behielten, um einander zu sehen und zu hören.
An diesem Abend befanden sich Beide auf dem Anstande. Offenbar lag etwas in der Luft.
»Und wenn's nur ein Volk Enten wäre, sagte sich Alcide Jolivet, einen Flintenschuss wird's doch wert sein!«
Die beiden Korrespondenten kamen also in ein Gespräch während des Balles, kurze Zeit, nachdem General Kissoff die Salons verlassen hatte, und Beide klopften erst gegenseitig auf den Busch.
»Wahrlich, mein Herr, dieses kleine Fest ist reizend! begann Alcide Jolivet, mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt die Unterhaltung mit dieser ausgesprochen französischen Phrase einleitend.
– Ich habe schon telegraphiert: splendid! antwortete frostig Harry Blount mit besonderer Betonung dieses Wortes, welches jeder Bürger des Vereinigten Königreichs als Ausdruck seiner Bewunderung zu gebrauchen pflegt.
– Ich jedoch, fügte Alcide Jolivet hinzu, glaubte meiner Cousine ...
– Ihrer Cousine? ... wiederholte Harry Blount erstaunt, indem er seinen Kollegen unterbrach.
– Ja wohl, fuhr Alcide Jolivet fort, ich stehe mit meiner Cousine Madelaine in Briefwechsel, sie hat es gern, schnell Alles zu erfahren, meine Cousine! ... Ich glaubte ihr also mitteilen zu müssen, dass die Stirn des Souveräns bei diesem Feste doch von einigen Wölkchen beschattet gewesen sei.
– Mir dagegen schien sie strahlend frei, antwortete Harry Blount, der wahrscheinlich seine Ansicht über diesen Gegenstand zu verbergen suchte.
– Und in Folge dessen haben Sie sie auch in den Spalten des-Daily-Telegraph ›strahlen‹ lassen?
– Gewiss.
– Erinnern Sie sich, Herr Blount, sprach Alcide Jolivet weiter, was im Jahre 1812 in Zakret vorgekommen ist?
– So genau, als ob ich dabei gewesen wäre, erwiderte der englische Reporter.
– Nun, sagte Alcide Jolivet, so ist Ihnen bekannt, dass man bei einem dem Kaiser Alexander zu Ehren gegebenen Feste diesem die Nachricht brachte, dass Napoleon mit der französischen Vorhut soeben den Niemen überschritten habe. Der Kaiser verließ jedoch das Fest nicht, trotz der Wichtigkeit dieser Nachricht, die ihm seine Herrschaft kosten konnte, und bekämpfte äußerlich jede Unruhe ...
– So wenig wie unser Wirth eine solche zeigte, als ihm General Kissoff die Meldung machte, dass die telegraphischen Verbindungen zwischen der Grenze und dem Gouvernement von Irkutsk unterbrochen seien.
– Ah, Sie kennen diese Einzelheiten?
– Ich kenne sie.
– Ich muss wohl davon unterrichtet sein, da mein letztes Telegramm bis Udinsk gelangt ist, bemerkte Alcide Jolivet mit einer gewissen Genugtuung.
– Und die meinigen nur bis Krasnojask, erwiderte Harry Blount etwas unwirsch.
– So wissen Sie auch, dass schon Befehle an die Truppen von Nicolajewsk abgegangen sind?
– Ja wohl, mein Herr, gleichzeitig als man den Kosaken des Gouvernements Tobolsk telegraphisch die Ordre zugehen ließ, sich zu sammeln.
– Sehr richtig, Herr Blount, auch diese Maßnahmen sind mir vollkommen bekannt, und glauben Sie, meine liebenswürdige Cousine wird schon morgen Einiges davon zu erzählen wissen.
– Ganz so wie die Leser des Daily-Telegraph davon unterrichtet sein werden, Herr Jolivet.
– Das kommt davon, wenn man Alles sieht, was ringsum vorgeht ...
– Und wenn man Alles hört, was gesprochen wird!
– Da wird's einen interessanten Feldzug zu verfolgen geben.
– Dem ich mich anschließe, Herr Jolivet.
– O, dann kann sich's treffen, dass wir uns auf einem minder sicheren Terrain, als das Parket dieses Saales, wieder begegnen.
– Wohl einem minder sicheren, aber auch ...
– Einem weniger glatten!« antwortete Alcide Jolivet, der seinen Kollegen in den Armen auffing, als dieser eben beim Rückwärtsgehen fast umgefallen wäre.
Später trennten sich die beiden Kollegen, ganz zufrieden zu wissen, dass Keiner dem Andern um eine Nasenlänge voraus war.
Jetzt sprangen die Türen der anstoßenden Säle auf. Dort zeigten sich verschiedene große und prächtig servierte Tafeln, schwer beladen mit kostbarem Porzellan und goldenen Gefäßen. Auf der mittelsten, für die Prinzen, Prinzessinnen und die Mitglieder des diplomatischen Corps reservierten Tafel glänzte ein Tafelaufsatz von unschätzbarem Werte aus Londoner Werkstätten und rund um dieses Meisterwerk der Juwelierarbeit spiegelten sich unter dem Glanze der Lustres die unzähligen Stücken des herrlichsten Geschirrs, das jemals die Manufakturen von Sèvres verlassen hatte.
Die Gäste des Neuen Palais begaben sich nach den Speisesälen.
In diesem Augenblicke näherte sich der General Kissoff, der inzwischen zurückgekehrt war, rasch dem Offizier der Gardejäger.
»Nun, wie steht's? fragte dieser lebhaft.
– Die Telegramme gehen nicht über Tomsk hinaus, Sir.
– Sofort einen Kurier!«
Der Offizier verließ den großen Saal und zog sich in ein daneben liegendes großes Gemach zurück. Es war das ein mit Eichenmöbeln sehr einfach ausgestattete Arbeitscabinet an einer Ecke des Neuen Palais. Einige Bilder, darunter einzelne Ölgemälde von Horace Vernet, hingen an den Wänden.
Der Offizier riss schnell ein Fenster auf, als habe es seinen Lungen an Sauerstoff gemangelt, und sog auf einem mächtigen Balkon die laue Luft der schönen Julinacht ein.
Vor seinen Augen breitete sich, in sanftes Mondlicht gebadet, eine Art Festungswerk aus, in welchem sich zwischen zwei Kathedralen drei Paläste und ein Arsenal erhoben. Rings um dasselbe die bestimmt unterschiedenen Städte: Kitaï-Gorod, Boloï-Gorod und Zemlianoï-Gorod, das ungeheure europäische, tartarische und chinesische Quartier, überragt von Türmen und Minaretten, von den Kuppeln der dreihundert Kirchen mit ihren grünen Dächern und dem silbernen Kreuz darauf. Ein kleiner Fluss mit vielgewundenem Laufe glänzte manchmal in den Strahlen des Mondes. Das Ensemble bildete eine wunderbare, verschieden gefärbte Mosaik, welche ein zehn Stunden langer Rahmen umschloss.
Dieser Fluss war die Moskowa; diese Stadt war Moskau, jenes Festungswerk war der Kreml und jener Offizier der Gardejäger, der mit gekreuzten Armen und träumerischer Stirn nur halb den Lärmen des Festes hörte, der sich aus dem Neuen Palais über die alte Stadt der Moskowiter verbreitete – das war der Zar.
Zweites Kapitel - Russen und Tartaren
Wenn der Zar so unerwartet und gerade in dem Augenblicke, als das Fest, welches er den Spitzen der Zivil- und Militärbehörden gab, in schönstem Glanze strahlte, die Salons des Neuen Palais verließ, so kam das daher, dass sich jenseits des Ural sehr wichtige Ereignisse vorbereiteten. Es war gar nicht zu bezweifeln: eine furchtbare Invasion drohte die sibirischen Provinzen der russischen Autonomie zu entziehen.
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