Jules van der Ley
Abendbummel online
Kleine Prosa
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jules van der Ley Abendbummel online Kleine Prosa Dieses ebook wurde erstellt bei
Aufgedrehte Äffchen im Nebel
Die unglaubliche Limmerstraße
Die Limmer bei Tag, Bart hintendran
Limmerlöckchen auf der Glatze
Der Teufel hat Kirmes
Wie Schönheit geht
Brei und Axt – Kurzfassung eines langen Kneipenabends
Gekaufte Orkane
Geschichtsbuch im Container
Leistungsträger mit rostiger Kette
Kalte Hände und frische Banknoten
Der Bauch im Frühling
Ein neues Wort und seine schrecklichen Konsequenzen
Erste Begegnung mit Jeremias Coster
Zwischen Liegen und Aufstehen
Regenschirm aufspannen
Unwahre Kirschen im Regen
Kopfsteinpflastermusik
Knatschjeck aus Tüten
Vollrohr ins Sommerloch
Feldforschung
Ringsum Lebenswege
speisen - abreisen
Schräg dahin
Ach so, der Zirkadianrhythmus
Möglicherweise Enten
Die hohen Schuhe wären nicht nötig gewesen
Zweimal deutscher Lebenszweck
Kleine Stilkunde
Große Zylinder rauchen lange Zigarren überall
Hurtig durch die Karrenspur
Genio Leibnitii und Enten
Vorsicht! Dieser Text kann Spuren von Erdnüssen enthalten
Immer der Nase nach
Falsch angezogen und daneben
Von Wärme in der Kühle
Spezialisten und Alleskönnerinnen
Füße am Himmel
Lächeln kostet
Vom Glück, nichts zu müssen
Lauter Eigennutz
Gefährliche Volksmusik
Gefällige Eigenschaften
Heißa, wir zünden Bärchen an
Bitte geben Sie dem Leierkastenmann kein Geld
Benutzen Sie den Fahrradweg
Hören Sie die Scheine knistern?
Müßige Gedanken über Richtungen
Unverantwortlich! Überall fehlen noch Laubbläser
Strickguerilla-Aktivistinnen – Tante Liesels Erbinnen
Interessant, interessant! – Straßentheater und Kopfkino
Vielleicht mit Nebenmann
Impressum neobooks
Aufgedrehte Äffchen im Nebel
Über Hannover liegt dichter Nebel. Schon um drei Uhr kommt kaum noch Licht durch, Weltuntergangsstimmung. Kurz nach fünf Uhr ist es zappenduster. Da habe ich mir den Weltuntergang mal von draußen ansehen wollen und einen ziemlich langen Abendbummel gemacht. Derzeit sind Schaufenster wie Lichtinseln in der Dunkelheit. Beim Friseur sitzen tatsächlich noch Kunden und warten geduldig, dass ihre Nummer auf der Anzeige des Aufrufsystems erscheint. Man stelle sich einen Weltuntergang vor, und da sitzen noch welche und warten auf den Haarschnitt. Schlimmer wären allerdings die dran, die mit einer halbfertigen Frisur von den apokalyptischen Reitern aus dem Laden getrieben würden. Oder eingeschäumt am Kopf. Wie peinlich.
Mir kommt eine junge Frau entgegen. Sie wird anscheinend von Äffchen begleitet, solche, die man aufziehen kann, und sie schlagen kleine scheppernde Becken gegeneinander. Wie sie an mir vorbeigeht, sehe ich Stöpsel eines Mp3-Players in ihren Ohren. Dass die Äffchen so laut tönen, liegt am Resonanzkörper, dem gedankenleeren Kopf. Ich will hier nichts Falsches behaupten, aber Musik, die beständig in die Ohren zischt und scheppert, lässt vermutlich gar keine oder nur ganz kleine Gedanken zu. Die werden einfach nieder gezischt. Das ist nicht nur im Flachland so.
Die Bertelsmannstiftung lässt derzeit über den SPIEGEL verbreiten, es gäbe ein Süd-Nord-Gefälle bei der Bildung der Jugendlichen in Deutschland. Im Norden säßen lauter Flachdenker, im Süden schraube sich der Bildungsgrad Jugendlicher immer weiter nach oben, quasi bis ins Hochgebirge. In Wahrheit liegt es daran, dass manche Eltern sich für ihren Nachwuchs private Bergführer leisten können, die den Jugendlichen den Weg bereiten. Aber Nachhilfe ist teuer, weshalb Bayern auch prozentual die geringste Anzahl von Abiturienten hat. Man hat also eigentlich noch weniger eigene Gedanken in Bayern als sonst wo und in den Niederungen viel Bräsigkeit. Kein Wunder, dass die Bayern von der Studie der Bertelsmannstiftung und auftragsgemäß vom SPIEGEL gelobt werden.
Wir sind auf der Benno-Ohnesorg-Brücke. Ein Stück weiter nördlich, wo die Ihme in die Leine fließt, unterhalb der Dornröschenbrücke hatten sich drei Punker eine Hütte gezimmert, direkt am Flussufer. Gestern war die Hütte zerstört, das Hab und Gut der drei war ringsum verstreut. Auf der anderen Seite der Brücke, wieder so nah am Fluss, waren sie dabei, ein Zelt aufzubauen. Direkt am Fluss ist es nachts vermutlich noch kälter und feuchter. Ich habe mich oft gefragt, warum sich Punker die unwirtlichsten Orte für den Verbleib wählen. Vielleicht wollen sie die Kälte unserer Gesellschaft so richtig spüren, sich selbst im Unwirtlichen härten. Das Ergebnis: Die älteren von ihnen sitzen bei eiskaltem Wetter auf dem Bürgersteig vor dem Supermarkt am Anfang der Limmerstraße, haben kaum noch Zähne, aber singen zu einer Gitarre. Sie haben bessere Laune als die ein- und ausströmenden gut situierten Kunden. Freilich erzählen ihre Gesichter Geschichten eines harten Lebens, die man lieber nicht hören wollte. Ist sowieso schon Endzeitwetter.
Die unglaubliche Limmerstraße
Wenn wir über die Limmerstraße gehen, wird’s ein bisschen bunter als sonst wo. Jedenfalls habe ich eine derartige Straße noch in keiner anderen Stadt gefunden. Sie hat eine wilde Schönheit, denn sie ist ein bisschen rottig. Ein Literaturstudent, den ich kenne, gliedert die Limmerstraße in drei Teile. Das erste Stück ist überwiegend in türkischer Hand, dann mischt es sich, und das letzte Drittel ist bestimmt von Studenten, jungen Familien, Arbeitern, Punkern, Arbeitslosen und Yuppies. Aber eigentlich ist die Einteilung nur bedingt richtig, denn ständig mischen sich alle. Man flaniert nämlich gerne die Limmerstraße rauf und runter, kann hier auch alles einkaufen, was man so braucht, selbst was man überhaupt nicht braucht. Mein rappender Biobäcker sagt, die Leute würden ihre individuellen Outfits auf der Limmerstraße austesten. Und wenn sie hier ankommen, können sie damit auch woanders bestehen. 80 Nationen sollen rund um die Limmerstraße leben, hat mir ein freundlicher Migrant erzählt. Den geringsten Anteil stellen die Nepalesen, die sind nur zu zweit. Es fahren hier keine Autos lang, aber die Straßenbahn der Linie 10 und Unmengen an Radfahrern jagen über das Kopfsteinplaster. Und so viele Menschen, so viele Fahrradmodelle. Wenn die meisten Geschäfte geschlossen haben, kehrt noch lange nicht Ruhe ein, lediglich die Kinder verschwinden von der Straße. Stattdessen kommen die älteren Geschwister in manierlichen Gruppen und tragen offene Bierflaschen in den Händen. Es wird unglaublich viel ambulant gesoffen auf der Limmerstraße, bis tief in die Nacht hinein. Nur wenige werden laut. Eigentlich geht es meistens manierlich zu auf der Limmer.
Einmal, so gegen 12 Uhr nachts kommt ein Anwohner aus dem Nebenhaus der Biobäckerei, Trainingshose, weißes T-Shirt um den Bauch. Rennt stracks über die Straße zu den Typen auf einer Bank, von denen einer nur eine Lautstärke kennt: Krakeelen. Der Anwohner hält ein Mobiltelefon in der Hand, dessen Display grün leuchtet. Er hat wohl die Nummer der Polizei gewählt und braucht nur noch auf Verbinden zu drücken. Das Handy ist für ihn die Rückversicherung und gleichzeitig eine Waffe gegen den Krakeeler.
Manche beklagen, es würde sich soviel ins Digitale verflüchtigen. Aber früher wäre das nicht gegangen. Das Handy ist einfach bequemer als eine untern den Arm geklemmte Polizei-Notrufsäule. Die wäre freilich eindrucksvoller, aber man könnte damit höchstens den überlauten Kerl erschlagen. Doch so etwas gehört sich nicht auf der Limmerstraße. Er begegnet also dem Schreier mit verbaler Gegengewalt. Da ist der sogleich einsichtig und senkt demütig den Kopf. Der Anwohner wendet sich erleichtert ab, kommt wieder über die Straße und klemmt sich an das Ende Reihe der dort auf den Fensterbänken und Treppen sitzenden Müßiggänger … äh … Müßigsitzer und sagt, er habe leider die Wohnung zur Straße hin und könne im Sommer wegen des Lärms auf der Limmer nie das Fenster öffnen. Aber der Kerl da drüben sei besonders übel, weil der immer so rumbrülle. Der guckt wie angesprochen herüber und brüllt: „Ich mache das nicht mehr! Jetzt bin ich ganz leise!“ Da gingen überall die Fenster auf und die Anwohner warfen ihre Schuhe auf die Straße.
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