Das Licht der Abendsonne adelt sogar die Wohn- und Bürotürme des Ihmezentrums. Es ist im Stil des Brutalismus gebaut, passt sowieso wunderbar in unsere Zeit. Angenommen, über den Türmen würde sich ein Regenbogen wölben, wie jetzt eben, man sieht sogar den äußeren Bogen. Wusstest du, dass der Äußere immer da, aber nur selten gut zu sehen ist? Bei ihm sind die Farbfolgen genau umgehrt. Zwei Regenbögen über dem Ihmezentrum, man könnte glatt denken, ist alles halb so wild. Auch Brutal kann seine Schönheit haben. Aber der Glanz ist nicht irdisch, gehört also weder dem Ihmezentrum noch dem Rest der Welt.
Meinem Unternachbarn haben sie übrigens unter der Woche das Auto abgeschleppt. Es war dem Verbuddeln der Zukunft durch die Telekom im Wege. Als die provisorischen Halteverbotsschilder aufgestellt wurden, war er geschäftlich in Spanien und Portugal gewesen. Er hatte also völlig schuldlos der Zukunft den Weg verbaut. Jetzt soll er trotzdem 250 Euro Abschleppgebühren bezahlen. “Wir müssen dagegen mit dem Anwalt vorgehen”, sagt er. Auto gegen Internet. Das gibt einen interessanten Rechtsstreit um die Zukunft.
Guten Abend
Im schönsten Sonnenschein habe ich auf der Limmerstraße gesessen, Milchkaffee getrunken und gelesen. In meinem Rücken hielten die Straßenbahnen. Früher gab es diese Abspielgeräte für Vinylschallplatten, bei denen man die Geschwindigkeit einstellen konnte. Langspielplatten brauchten 33, Singles 45, und alte Singles im LP-Format verlangten 78 Umdrehungen pro Minute. Daran dachte ich, als eine hübsche Frau mit Hund vorbeiging. Weder sie noch der Hund waren besonders groß. An ihnen passte alles gut, besonders an der Frau. Sie hatte höchst artige Proportionen und sie ging flott.
Im Gehen bin ich eher eine Langspielplatte, mache höchsten 33 Schritte pro Minute. Die Frau, die ich eben sah, machte gewiss 78 Schritte, aber völlig unangestrengt und angemessen, nicht grotesk wie eine Single, die man mit 78 Umdrehungen abspielt, weshalb sich alle Stimmen anhören wie die von Micky Maus. So fein war sie anzusehen, wie ihre gebräunten Beine sie zack, zack, zack in ihrer natürlichen Geschwindigkeit von mir weg trugen. Es wäre jetzt zu fragen, ob der Vergleich mit Schallplatten noch weiter trägt, ob einer mit langsamer Schrittfolge nicht länger und ausdauernder gehen kann als die flotten Singles, die grad mal dreieinhalb Minuten laufen.
Das würde mich zwar trösten, aber ich glaube das nicht, vielmehr glaube ich, dass der Natur kein normaler Mann so wohlproportioniert und effektiv in der Kraftausnutzung geraten kann, wie wir es bei dieser Frau gesehen haben. Einheit von Form und Funktion. Faszinierend.
Kaffee ist alle. Wir können gehen. Aber Halt! 33! Wir bummeln.
Brei und Axt – Kurzfassung eines langen Kneipenabends
Gestern Abend traf ich mich mit Freund Leisetöne in unserer Stammkneipe. Sie trägt den schönen Namen „Vogelfrei“. Wir hatten das noch nie an einem Montag gemacht und waren tatsächlich eine ganze Weile die einzigen Gäste. Als ich eintraf, saß Herr Leisetöne schon bei einem großen Pils auf seinem Lieblingsplatz in der Ecke, den Rücken zum Fenster, die Tür im Blick und schrieb in sein Notizbüchlein, quasi als vogelfreier Kneipendichter. Herr Leisetöne erzählte, dass er vor Tagen tapfer Griesbrei gegessen, in den die Gastgeberin versehentlich das Salzfass geleert hatte.
Ich esse eigentlich alles, was mich nicht ansehen kann, aber mit Griesbrei kann man mich quer durch die Republik bis in die Innere Mongolei jagen, auch wenn es ganz besonderer Grießbrei ist, in den ein Eimer Salz gehört. Schon das Wort Brei ist mir zuwider, und ich bin nah dran zu glauben, dass im Wort Brei das universell breiige sich verbirgt, das körnig-schleimige Mittelding zwischen fest und flüssig. Wie das schon klingt: Hebt an mit einem trockenen Brrr, um sogleich in das schleimige Ei zu tauchen. Alle Wörter, die mit „Br“ und „Gr“ beginnen, sind grauslich und brutal hässlich, ausgenommen Braut und Bräutigam natürlich; die machen sich ja extra hübsch.
Herr Leisetöne hatte ein Buch mit Geschichten von Richard Brautigan bei sich, und weil wir ungestört waren, ermunterte ich ihn, mir die beste vorzulesen. Sie war ziemlich komisch, voller surrealistisch anmutender Übertreibungen und schräger Bilder, obwohl es um einen banalen Vorgang ging, das Anstehen in der Kassenschlange einer Bank hinter siamesischen Zwillingsbrüdern, von denen einer nur paar und sechzig Dollar einzahlt, der andere aber zwei Millionen, hab die genauen Summen leider vergessen.
Am Nachmittag hatte ich in einem Text Grießbrei erwähnt, vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben. Darum schien mir seltsam, dass Leisetöne just zum Beginn unseres Abends von „Grießbrei“ erzählte, denn schließlich hat die deutsche Sprache gut zwei Millionen Wörter, aus denen er hatte wählen können. Meinen Text kannte er jedenfalls noch nicht. Überall wird Frühling ausgerufen, Leisetöne hatte sogar Goethes “Osterspaziergang” umgedichtet, was er mir vorlas, aber ich glaube, was in der Luft liegt, ist nicht Frühling, sondern Grießbrei.
„Bundespräsident Gauck nimmt seine Amtsgeschäfte auf“ titeln heute diverse Zeitungen. Wie muss man sich das vorstellen? Gauck auf den Stufen von Schloss Bellevue, seine Braut im Arm, wendet sich um, sieht sie liebvoll an und spricht den tiefen Herzenswunsch aller ehedem darbenden DDR-Bürgerrechtler aus: “Komm, Daniela, jetzt lassen wir uns von der Schlossküche zuerst mal eine ordentliche Portion Grießbrei kochen!”, – quasi als fass- und essbare Äquivalenz zu dem Brei, den er in letzter Zeit von sich gegeben hat und womit er uns hinfort zuzuschütten gedenkt.
Jedenfalls, wir sind wieder in der Kneipe, hatte sich Leisetöne letztens ziemlich negativ über Smartphones und ihre Bediener ausgelassen, obwohl er wusste, dass ich auch eines besitze. Aus Rache holte ich mein Smartphone heraus, rief im Internet das Teppichhaus Trithemius auf und nötigte ihn, den Text zu lesen, zum Beweis, dass ich tatsächlich Griesbrei erwähnt hatte. Da konnte er nicht anders als zu lernen, wie man als „Smartphonezombie“ Fingerabdrücke auf dem Display macht, – um was zu lesen? „Grießbrei“. Derzeit hänge ich wieder mal der Theorie an, man könne schicksalhafte Wendungen herbei pfeifen. Ich mache mich also auf ein bedenklich waberndes Gebirge von Grießbrei gefasst.
Viel später dann, als wir nach einem unterhaltsamen Abend gehen wollten, kam ich beim Bezahlen mit einem rauschbärtigen, zottelhaarigen Mann ins Gespräch. Er begleitete uns vor die Tür, um Leisetöne noch etwas zu fragen, was er nämlich davon halte, dass ihm die Polizeistreife sein Lagerfeuer gelöscht hatte, das gut vier Meter Durchmesser gehabt hätte. Weil Leisetöne nicht sofort wusste, wovon der Mann sprach, begann er die ganze Geschichte von vorn zu erzählen, versprach aber, die „Kurzform“ zu geben. Das ging so:
„Ich stamme wie jedes Menschenkind vermutlich von Adam ab, wahrscheinlich auch von Abraham, ganz sicher aber in direkter Linie von Karl dem Großen, der bekanntlich in der Gegend war, um heidnische Sachsen zu köpfen und neue zu machen. Meine Eltern sind der Förster Karl-Hermann Mobenbach und Katharina Mobenbach, geborene Lammfell, deren Vater ebenfalls Forstmeister im Teuteburger Wald war. Das Schlagen von Holz wurde mir also in die Wiege gelegt, obwohl ich eigentlich Konditor werden wollte. Aber mein älterer Bruder, der gemäß der Erbfolge für das Forsthandwerk vorgesehen war, heiratete eine reiche Witwe, die er über eine Annonce in der FAZ kennen gelernt hatte, und ist hinfort mit der Verwaltung ihres Vermögens beschäftigt, das aus einer hübschen Summe Bargeld auf einem Schweizer Nummernkonto und stattlichen Waldungen besteht, zu denen auch der Forstbezirk meines Vaters zählt, wodurch er sich seinem eigenen Erstgeborenen unterwerfen musste. Mit 17 Jahren verließ ich das unfrohe elterliche Haus und ging auf die Walz, führte mit mir die Axt, die mein Großvater mütterlicherseits und mein Vater schon geführt hatten. Denn mit der ungebührlichen Heirat hatte mein älterer Bruder sein Anrecht auf die väterliche Axt ver …
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