Die Zicke, die McGilligan erwähnt hatte, sollte wohl Lola sein. Nun redeten mehrere Anwesende durcheinander, und Roger vernahm auch das Organ Kensingtons. Dass sie Lola nicht geschnappt hatten, ließ hoffen. Hoffentlich war sie so gerissen, wie er vermutete, und...
Seine Hoffnung nahm zu, als er hörte, dass jemand die Decke am Eingang beiseite wischte und Lolas Stimme sagte: »Die Flossen hoch, aber ’n bisschen plötzlich!« Und dann, ziemlich erfreut: »Hallo, Roxanne! Da bist du ja!«
Roger riskierte einen Blick. Kensington saß auf dem Bett. Sein Mund stand sperrangelweit offen. McGilligan, der sich offenbar kurz zuvor gebückt hatte, um das Schnürband seines rechten Schuhs zu richten, verharrte mitten in der Bewegung. Roxanne Prentiss stand etwa einen Meter von Lola entfernt. Lola hielt einen Schießprügel in der Hand, den sie vermutlich dem toten Flint abgenommen hatte.
Roger wollte etwas sagen, doch seine Stimmbänder weigerten sich.
»Lola! Endlich!« Roxanne stürzte sich auf die Retterin, von der sie gar nicht gerettet werden wollte, doch Lola wich ihr geschickt aus und sagte: »Vorsicht! Geh aus der Schusslinie!«
Roxanne wich frustriert zurück. Den verbiesterten Blick, mit dem sie Kensington musterte, bekam nur Roger mit, dem es nun gelang, seinen Oberkörper aufzurichten. Als Lola ihn erspähte, machte es Bumm! Roger knallte mit dem Schädel an den Tisch, unter dem er gelegen hatte und sank erneut stöhnend zu Boden.
»Roger!«, rief Lola. »Bist du verletzt?«
»Hören Sie, Lady«, warf McGilligan nun ein. »Was soll das bedeuten?« Er wollte sich erheben, doch Lola war wie der Blitz bei ihm und trat ihm ins Kreuz, so dass er der Länge nach neben Roger auf den Boden schlug.
»Maul halten!« fauchte sie. »Was habt ihr mit meinem Freund gemacht?« Sie wandte sich an Roxanne. »Was haben sie mit ihm gemacht, Roxanne?«
»Er hat was auf den Kopf gekriegt«, erwiderte Roxanne und näherte sich dem gestürzten McGilligan von der Seite. »Ich nehme ihm die Kanone ab...«
Sie bückte sich, doch in diesem Moment gelang es Roger, sich aufzurappeln. Seine Hand zuckte vor und packte Roxannes Gelenk. Die Frau schrie auf, und Lola rief erschreckt: »Was machst du denn da?«
»Die verdammte Schlampe steckt mit den Kerlen unter einer Decke«, fauchte Roger. »Sie hat mich niedergeschlagen!«
»Was?!« Lola schaute von ihm zu Roxanne, als wisse sie nicht, was sie glauben sollte. Roxanne setzte eine empörte Miene auf und schrie: »Er lügt! Glaub ihm nicht! Er gehört zu der Bande! Er will dich nur in Sicherheit wiegen!«
Roger nahm McGilligan das Schießeisen ab und fletschte die Zähne. Roxanne schrie auf und wich zurück, als erwarte sie Prügel. Roger hatte die Schnauze nun voll. Man hatte seinen besten Freund ermordet und ihm zweimal auf den Kopf geschlagen. Irgendwann platzte auch dem sanftesten Gemüt der Kragen.
»Leg ihn um!«, schrie Roxanne. »Leg ihn um, Lola! Du kannst ihm nicht trauen!« Kensington saß totenbleich hinter ihr auf dem Bett. Er war zwar bewaffnet, schien aber nicht den Mut zu haben, sein Eisen zu ziehen, da Lola das ihre schon in der Hand hatte.
»Lass dich von dieser Schlange nicht einwickeln«, fauchte Roger. Er trat auf Kensington zu, der erschreckt zurückfuhr. Roger zog ihm den Revolver aus dem Holster und steckte ihn zu McGilligans Waffe in seinen Gürtel. Er überblickte schnell den Raum. »Lass und abhauen, Lola! Hier haben wir nichts mehr verloren. Deine Freundin fühlt sich wohl in diesem Haus. Du siehst es schon an ihrer Unterwäsche.«
Lola schaute Roxanne an. Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass sie anders gekleidet war als am Abend ihrer Entführung. »Woher weißt du, was sie vorgestern anhatte?«
»Erzähl ich dir später mal«, sagte Roger und verfluchte sein vorlautes Mundwerk. »Komm jetzt!« Er deutete auf den Ausgang. »Du wirst schon sehen, dass sie freiwillig hier bleibt.«
Lola schaute ihn zweifelnd an, dann setzte sie sich langsam rückwärts in Bewegung. Roger schlug die Decke zur Seite, und Roxanne rührte sich tatsächlich nicht von der Stelle. Lola warf ihr einen wütenden und zugleich sehr enttäuschten Blick zu, dann spuckte sie auf den Boden. »Schlange!«
Roxanne zuckte zusammen. Lola drehte sich um und folgte Roger aus dem luxuriös eingerichteten Kellerraum. Ihre Laterne stand angezündet vor der Tür. Roger nahm sie und eilte durch die Gänge bis zur Treppe. »Beeil dich!«
Er ließ Lola vorangehen. Als sie oben ankamen, schaute er sich schnell um. Sie waren erst in Sicherheit, wenn Georgie Flannagan ausgeschaltet war, der noch immer irgendwo im Haus umher streifte. Der Mann war gefährlich – er und seine Komplizen hatten keine Skrupel gehabt, drei Pinkertons zu töten. Wenn er seine Felle wegschwimmen sah, war er vielleicht zum Äußersten fähig.
Die Haustür war verschlossen, also öffnete Roger kurzerhand ein Fenster und deutete hinaus.
»Du gehst zuerst.«
»Was wird aus Fifi?«, fragte Lola.
»Niemand weiß, dass sie mit uns zusammen gearbeitet hat«, erwiderte Roger leise. »Also wird man ihr nichts tun.«
»Doch, ich weiß es«, sagte irgendwo im Salon eine hämische Stimme.
Dann krachte ein Schuss. Die Blumenvase, die Lola von der Fensterbank genommen hatte, um ins Freie zu klettern, zersprang in tausend Stücke.
Roger packte ihren Arm und riss sie zu Boden. Als der weite Schuss sein Echo warf, stürzte er einen Tisch um und verwendete ihn als Barrikade. Sein Colt flog in seine Hand und erwiderte das Feuer.
Roger hatte keine Ahnung, wo Georgie in dem halb dunklen Salon steckte, deshalb gingen seine ersten Schüsse ins Blaue. Dann sah er in der Nähe der in den ersten Stock führenden Treppe das Mündungsfeuer des Banditen aufblitzen. Er hatte sich hinter einer Ecke verschanzt. Roger gab zwei weitere Schüsse ab, und irgendwo fiel irgendetwas um.
Im ersten Stock schrie eine Frau auf. Fifi? Herrjeh, hoffentlich kommt sie jetzt nicht raus. Auf der Kellertreppe wurde das Stampfen von Schritten laut. Gleich darauf steckte McGilligan den Kopf aus der Kellertür und schrie: »Leg ihn um, Georgie! Er weiß alles!«
Roger schoss auf die Kellertür und hörte einen Schreckensschrei. Genau besehen war ihre Lage nicht allzu übel. Er hatte neben seinem eigenen Colt auch die erbeuteten Waffen Kensingstons und McGilligans, und Lola verfügte über Flints Schießeisen. So lange sie es nur mit einem bewaffneten Gegner zu tun hatten...
Plötzlich flogen ihm Holzspäne um die Ohren, und er ging erschreckt in Deckung. Von der Kellertür her richtete sich der Lauf einer doppelläufigen Schrotflinte auf seinen und Lolas Standort.
Mist! McGilligan musste irgendwo im Keller eine Waffe aufgetrieben haben. »Die Lage wird heikel«, raunte er Lola zu. »Ich kann nur hoffen, dass nicht auch Kensington bewaffnet ist... Offen gesagt, ich bin kein sehr guter Schütze...«
»Aber ich.« Lola zucke hoch und gab einen Schuss ab. Aus Georgies Richtung kam ein Fluch.
»Das beruhigt mich«, murmelte Roger.
»Was ist hier los?«, schrie Fifi plötzlich in der Dunkelheit. »Victor, wo bist du?«
Roger hob den Kopf und sah sie in ihrem Nachtgewand auf dem obersten Treppenabsatz stehen. Er wollte ihr zurufen, sie solle in Deckung gehen, doch im gleichen Moment zwang ihn eine weitere Schrotladung, den Kopf einzuziehen. Zu allem Übel ging nun auch die Sonne auf. Die ersten Strahlen erreichten das Haus. Als sein Blick ins Freie fiel, sah er, Kensingtons Hauspersonal verschlafen, zerzaust und notdürftig bekleidet aus dem Nebenhaus kommen und sich auf dem Hof versammeln. Zwei Männer rannten zum Tor des Forts, um es zu öffnen – aus welchem Grund auch immer.
»Hört auf!«, schrie nun Kensington. «Hört mit der Scheiße auf, verdammt noch mal! Noch ist niemand zu Schaden gekommen! Noch können wir die Sache rückgängig machen!«
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