Roger stieß keuchend die Luft aus. Dann bückte er sich und betrachtete sein Opfer eingehender. Flint regte sich nicht mehr. Er starrte mit hohlem Blick ins Leere. Er schien sich das Genick gebrochen zu haben.
Roger schüttelte sich. Dann trat er langsam zurück. Er hatte einen Menschen umgebracht, wenn auch in Notwehr. Wenn sie ihn erwischten, bevor er Roxanne Prentiss gefunden hatte, würde man ihn am nächsten Baum aufknüpfen. Kensington war in Hard Times ein angesehener Mann. Möglicherweise duzte er sich mit dem Marshal und dem Friedensrichter.
Rogers Karten standen schlecht. Er fragte sich, was Flint überhaupt hier gemacht hatte. Hatte er etwa den Kellereingang bewacht? Dafür musste es einen Grund geben.
Roger öffnete die Tür. Es war dunkel dort unten, doch an der Wand, rechts von ihm, befanden sich drei Haken, an denen zwei Laternen hingen.
Eine fehlte. Hatte Lola sie an sich genommen? Er nahm eine Laterne an sich und zündete sie an. Im Schein des Lichts stieg er eine Steintreppe hinab und kam in einen etwa zehn Quadratmeter großen Raum, von dem zwei Gänge abwichen. Der eine, rechts von ihm, war mit einer Tür versehen. Roger versuchte sie zu öffnen. Abgeschlossen. Er wandte sich dem finster gähnenden Gang zu, der ihm gegenüber lag. Er wich nach rechts und links ab. Vor ihm waren zwei kleine Räume, in denen Holzstapel lagerten. Brennmaterial für den Winter. Roger ging nach links. Er kam in eine typische Kellerzone mit etwa einem Dutzend offenen Lattenverschlägen, in denen sich Gerümpel und alte Möbel türmten.
Er ging zurück, nahm die linke Abzweigung. Auch hier stieß er auf zahlreiche Verschläge, aber nichts wies darauf hin, dass sie eine Gefangene beherbergten. Der Gang war mindestens fünfzehn Meter lang. An seinem Ende befand sich eine weitere Tür.
Roger ging in die Knie und warf einen Blick durch das Schlüsselloch. Er blickte in einen kleinen Raum oder einen weiteren Gang. So genau war es nicht zu erkennen. Vor sich sah er einen Türrahmen, der von einer in der Mitte geteilten Decke verhängt war. Durch den Schlitz in der Mitte glaubte er das Licht einer Kerze zu erkennen.
Roger schaute sich um und prägte sich den Rückweg ein. Dann löschte er die Laterne und stellte auf den Boden. Seine Hand legte sich vorsichtig auf den Türknauf. Klick. Die Tür ging auf. Ein rascher Blick zeigte ihm, dass es sich um einen Vorraum handelte. Er baute sich vorsichtig hinter der Decke auf und lugte durch den Spalt.
Dahinter befand sich ein wohnlich eingerichteter Raum. Ein Schlafzimmer? Er sah ein Himmelbett mit dicken Kissen. Die Decke war zurückgeschlagen, auf dem weißen Laken lag ein schwarzes Korsett. Vor dem Bett stand ein paar Stiefel, das er an den Beinen der Entführten gesehen zu haben glaubte.
Roger frohlockte. Er hatte das Versteck gefunden! Doch wo steckte Roxanne? Und wo, zum Henker, blieb Lola?
Im gleichen Moment ging in dem Raum eine Tür auf, die er bislang übersehen hatte. Roxanne trat ein. Sie trug goldene Sandalen mit hohen Absätzen und einen kurzen roten Spitzenunterrock, das sich so eng an ihren Leib schmiegte, dass er mehr zeigte als verbarg.
Roger fragte sich, ob sie ihm jetzt auch noch so hochnäsig entgegentreten würde.
Er schlug die Decke beiseite und trat ein.
»Hallo, Durchlaucht...«
Roxanne zuckte zusammen als sei er eine Klapperschlange. Sie riss Mund und Augen auf und zeigte ein heftiges Entsetzen.
»Überrascht?« Roger schaute sich kurz um. Das luxuriös eingerichtete Zimmer, in dem sie sich aufhielten, sah eigentlich kaum wie ein Gefängnis aus. Außerdem war es nicht verschlossen gewesen.
Was hatte Roxanne daran gehindert, es zu verlassen? Ziemlich unverständlich war ihm auch, wieso die Entführte nun einen roten Unterrock trug, wo er sie doch bei ihrer letzten Begegnung in einem schwarzen gesehen hatte. War Kensington ein so verständnisvoller Kidnapper, dass er ihr neue Unterwäsche gekauft hatte?
»Homer von Wallenstein!«, sagte die falsche Gräfin verdattert. »Wo, in aller Welt, kommen Sie denn her?« Sie machte keine Anstalten, ihre durch den fadenscheinigen Unterrock sichtbaren körperlichen Schätze zu verbergen.
Roger räusperte sich. »Ich stehe sozusagen in den Diensten Ihrer Herrschaft. Wir sind gekommen, um Sie zu befreien.«
»Ach, wirklich?« Roxanne schaute sich um, als rechne sie damit, dass jeden Moment jemand eintreten könne.
Roger empfand ihren Blick als irgendwie gehetzt, und er hatte nicht im Geringsten den Eindruck, dass sie sich über sein unerwartetes Auftauchen freute. Befürchtete sie etwa, das tollkühne Unternehmen könne in letzter Sekunde schief gehen? Wusste sie, dass Flint hier irgendwo lauerte und jeden Moment zurückkehren konnte?
»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er. »Ich habe Flint erledigt.«
»Tatsächlich?«
Roger nickte. »So gut mir ihre reizende Unterwäsche auch gefällt, meine Liebe«, fügte er dann hinzu, »ich würde es vorziehen, wenn Sie sich nun anzögen. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden...« Er deutete über seine Schulter. »Es könnte sein, dass man Flint bald findet.«
»Ja, ja...« Roxanne machte sich fahrig an der Schublade eines Schränkchens zu schaffen. »Wo ist die Gräfin?«
»Das frage ich mich auch«, sagte Roger und runzelte die Stirn. »Sie hätte eigentlich vor mir hier sein müssen.« Er drehte sich um und fragte sich, ob er die Zeit nutzen sollte, um Lola zu suchen. »Hoffentlich hat sie sich in diesem Labyrinth nicht verlaufen...«
»Das wäre ja furchtbar«, hauchte Roxanne – wie Roger fand, aus ziemlicher Nähe. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Als er auf dem Absatz herumfuhr, blitzte etwas Silbernes vor seinen Augen auf, knallte gegen seine Stirn und knipste ihm sein inneres Licht aus.
Dass es der Leuchter war, erfuhr er erst später.
23.
In den dreißig Jahren seines Lebens war Roger O’Donnell mit der Weiblichkeit immer gut gefahren.
Die Damen mochten ihn, und er mochte die Damen. Doch als er diesmal zu sich kam, verspürte er das drängende Verlangen, einer Frau den Hintern zu versohlen. Nach Möglichkeit den nackten Hintern. Auf einem gut besuchten Marktplatz, damit alle braven Bürger etwas davon hatten.
Sein Schädel dröhnte, doch zum Glück war ihm weniger übel als beim letzten Niederschlag. Er konnte den Kopf zwar schütteln, ohne sein Abendessen ausspucken zu müssen, aber seine Sinne funktionierten irgendwie falsch. Als er die Augen öffnete, erblickte er ein Nebelmeer. In seinen Ohren rauschte die See. Erst nach und nach wurde ihm klar, dass es menschliche Stimmen waren.
Roxanne und...
Dass sie ihn so heimtückisch niedergeschlagen hatte, hatte vermutlich den Grund, dass sie nicht gerettet werden wollte.
Dies wiederum konnte nur bedeuten, dass sie von Anfang an mit Kensington unter einer Decke gesteckt hatte.
Dass seine dämliche Bande die Falsche entführt hatte, hatte sie nicht verhindern können, da einer der Männer sie groggy geschlagen und sogleich über seine Schulter geworfen hatte. Sie hatte auch nicht ahnen können, dass Lola sie auf dem Schiff nach New York dazu zwingen würde, sich das Haar zu färben. So hatte sie keine Gelegenheit gehabt, Kensington die wichtige Veränderung mitzuteilen.
Rogers Verdacht bestätigte sich wenige Sekunden später, als er jemanden sagen hörte: »Das hast du gut gemacht, Roxie! Jetzt brauchen wir nur noch die Zicke zu finden.«
Die Stimme gehörte McGilligan. Und vermutlich auch die Stiefelspitze, die kurz darauf in Rogers linke Seite krachte. Er verbiss sich den Schmerz, denn er wollte dem Kerl nicht zeigen, dass er wieder bei Sinnen war. So lange man ihn für ohnmächtig hielt, würde man ihn in Ruhe lassen. Und dann ergab sich vielleicht eine Gelegenheit. Zumindest eine Gelegenheit zum Nachdenken.
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