»Ich glaub, mir wird übel«, sagte Lola, als die Männer auf das Haus zukamen.
»Im Hotel hat McGilligan mich nicht erkannt«, sagte Roger. »Vielleicht haben sie mich bei der schlechten Beleuchtung im Zug gar nicht richtig wahrgenommen...«
»Ja«, sagte Lola. »Aber was ist mit mir? Einer von ihnen hat mich niedergeschlagen.«
»Oh, Scheiße«, sagte Roger erschreckt. »Daran hab ich überhaupt nicht mehr gedacht! Es war Irrsinn, hierher zu kommen!«
Georgie, Flint und McGilligan traten ein und schauten sie kurz an, doch niemand erweckte den Eindruck, sie zu kennen. Trotzdem registrierte Roger ein leichtes Zittern seiner Knie. Die Männer nahmen ihre Hüte ab und begrüßten Kensington, der sich daraufhin zu Roger und Lola umdrehte.
»Ich würde Ihnen gern einige meiner Freunde vorstellen...«
Roger schluckte und schüttelte den Neuankömmlingen die Hand.
»Angenehm. Ich bin Roger McGuinn.«
Die drei Männer murmelten ihre Namen, und Roger atmete auf, als sie Männer sich zu den anderen Gästen gesellten. Lola schüttelte sich.
Allerdings sollte man sein Glück nicht herausfordern. Roger nahm Lola an die Hand. Sie hielten sich von dem Trio fern, mischten sich unter die restlichen Gäste und bemühten sich, etwas über die Neuankömmlinge zu erfahren.
McGilligan war der Geschäftsführer von Kensingtons Sägewerk. Gary Flint und George Flannagan waren mit ihm befreundet. Sie waren nicht oft in der Stadt. Eigentlich wusste niemand genau, welchem Gewerbe sie nachgingen.
Der Nachmittag verlief unterhaltsam. Jemand setzte sich im Salon an ein Piano und sorgte für Musik. Einige Paare tanzten, doch die meisten Gäste standen herum, tranken und tratschten.
Fifi zeigte Roger und Lola die Küche, die Stallungen und das Zimmer, in dem sie die Nacht verbringen sollten.
»Hast du dich inzwischen umgesehen?« Lola zückte ein Blatt Papier und einen Bleistift.
»Ja.« Fifi nahm vor einem Sekretär Platz, zeichnete den Lageplan der ihr bekannten Räumlichkeiten und markierte die Zimmerflucht, die Kensingtons Lebensbereich war. Roger warf einen Blick aus dem Fenster und prägte sich die Lage der Räume ein, in die er nicht vorstoßen wollte, damit es nicht zu unvorhergesehenen Begegnungen kam.
Das Essen wurde im Salon aufgetragen. Danach, beim Kaffee, ließ Kensington sich ausgiebig über die Schlechtigkeit der Welt, die Verdorbenheit der Jugend und das Banditen-Unwesen aus, was ihm viel Beifall – besonders von Georgie, Flint und McGilligan – einbrachte. Roger, dem sich angesichts dieses Schwadronierens die Haare sträubten, wetterte über Betrüger, die ahnungslose Bürger mit Aktien nicht existierender Silberminen in New Mexico übers Ohr hauten, und Fifi setzte noch eins drauf, indem sie bitterlich den Verfall der Moral und der guten Sitten beklagte.
Der Abend ging fröhlich zu Ende. Gegen Mitternacht brachen die ersten Gäste mit ihren Einspännern zu ihren eigenen Besitzungen auf. Eine halbe Stunde später war das Fort bis auf die sechs Gäste leer, die hier übernachteten.
Georgie, Flint, McGilligan und Fifi zogen sich als erste zurück. Kensington wünschte Mr. und Mrs. McGuinn eine Gute Nacht. Die Mexikanerin mit den Glutaugen führte Roger und Lola zu ihrem im ersten Stock liegenden Zimmer.
19.
In der Ferne bellte ein Coyote. Das Mondlicht fiel silbern vom Himmel, als Roger O’Donnell einen Blick auf die Uhr warf und vom Bett aufstand.
»Drei Uhr«, sagte er. »Auf, meine Liebe...«
Lola, die neben ihm lag, öffnete die Augen schaute ihn an. Er hatte geglaubt, sie sei eingeschlafen, doch sie wirkte hellwach. Sie hatte sich, wie er, nur die Stiefel ausgezogen.
»Glaubst du wirklich, dass jetzt alle schlafen?«
Roger zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, aber wir müssen es riskieren.«
Er schaute aus dem Fenster. Das Fort lag in absoluter Finsternis da. Ein leiser Wind wehte, was ganz gut war, denn geräuschlose Nächte waren nicht von Vorteil, wenn man vorhatte, im Haus seines Gastgebers herumzuschleichen, ohne dass er etwas merkte. Es wäre ihm am liebsten gewesen, wenn draußen ein ganzes Coyotenrudel geheult hätte. Auch Gewitter waren in solchen Nächten nicht zu verachten. Alles, was die Geräusche übertönte, die sie vielleicht erzeugten, war ihm willkommen.
»Na schön.« Lola stand auf und reckte sich. »Nehmen wir uns also die Kellerräume vor.«
Fifi hatte ihnen den Eingang zum Keller gezeigt. Sie brauchten nur die Treppe hinunter zu gehen. Die Tür befand sich in der Nähe des Salons, in dem sie heute gefeiert hatten. Im Nebengebäude schlief das Personal. Dass dort jemanden gefangen gehalten wurde, war nicht sehr wahrscheinlich, es sei denn die gesamte Dienerschaft steckte mit Kensington unter einer Decke.
Roger öffnete die Tür. »Ich gehe zuerst runter. Warte fünf Minuten. Dann kommst du nach.« Zwei Personen machten vielleicht ungewollten Lärm. Sie konnten sich in der Finsternis anrempeln oder sonst wie behindern. Lola nickte, und er huschte hinaus.
Der Korridor lag still vor ihm. Am Ende war ein Fenster, durch das die Sterne leuchteten. Roger pirschte auf Zehenspitzen an der Tür vorbei, von der er wusste, dass sie in ein Marmorbad führte. Dahinter lagen die Zimmer Georgies, Flints und McGilligans. Er huschte lautlos an ihnen vorbei und atmete auf, als er den Mond durch das Fenster scheinen sah.
Plötzlich ein leises Knarren.
Roger hielt inne. Er lauschte dem Schlag seines Herzens. Ihm kam plötzlich ein schrecklicher Gedanke. Was war, wenn man ihnen eine Falle gestellt hatte? Sie hatten am Vortag darüber gesprochen, dass die Entführer inzwischen wissen mussten, dass sie die falsche Gräfin erwischt hatten...
Was hätte er in dieser Situation getan? Am Daumen gelutscht und auf den Tag gewartet, an dem ihm einfiel, was er mit seinem wertlosen Opfer anfangen sollte?
Angenommen, dachte er, Kensington steckt wirklich hinter der Sache und weiß, wie die echte Gräfin aussieht... Es muss ihm wie ein Geschenk des Himmels erschienen sein, Lola in Gesellschaft seiner Braut im Santa Cruz an einem Tisch sitzen zu sehen...
Wäre es nicht gerissen von ihm gewesen, sie daraufhin auf seinen Besitz einzuladen, wo er die Gräfin »entführen« konnte, ohne dass ein Schuss fiel? Er hatte nur seine Leute zu informieren brauchen...
Wieder das leise Knarren. Einen halben Meter vor ihm wanderte ein schmaler Lichtstreifen über den Boden. Roger spannte seine Muskeln an.
Urplötzlich ragte eine Gestalt vor ihm auf. Zwei Hände krallten sich in seine Weste, und er wurde energisch nach vorn gezogen. Er hob die Arme, um auf den unbekannten Angreifer einzuschlagen, doch im gleichen Moment drang lieblicher Parfümduft in seine Nase.
»Fifi?«, ächzte er überrascht.
»Pssst, sei leise...« Fifi zog ihn in ihr Zimmer und machte rasch die Tür hinter sich zu. Roger schaute sich verdutzt um. Er sah ein aufgeschlagenes Bett. Auf dem Nachtschränkchen stand ein Kerzenleuchter, und er begriff, was den Lichtstrahl auf dem Korridorboden erzeugt hatte.
Fifi trug einen transparenten weißen Fummel mit allerlei verspielt aussehenden Rüschen. Und nichts darunter. Sein Schwengel fing fröhlich an zu pochen. Eigentlich hatte er ja jetzt wichtigere Dinge zu tun...
»Fifi, was...?«
Fifi zog ihn zum Bett. Was hatte sie vor? Sie wollte doch nicht etwa mit ihm...? Sie befanden sich unter dem Dach ihres zukünftigen Gatten. In den Nebenzimmern schliefen drei ihm ergebene Revolvermänner. Auch wenn aus ihrer geplanten Ehe nichts wurde – Kensington ahnte nichts davon. Was war, wenn er ausgerechnet heute Nacht den Versuch unternahm, von seiner Braut einen Vorschuss auf die Hochzeitsnacht zu kassieren?
»Das geht doch nicht, Fifi«, keuchte Roger leise.
»Hör zu«, sagte Fifi. »Ich hab mir die ganze Sache noch mal ernsthaft überlegt.«
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