Zu meinem drängenden Durst auf eine Antwort nach den Lebensfragen kam eine zunehmende Abenteuerlust. Karl May hatte wohl einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Bereits mit fünfzehn Jahren war ich zusammen mit meinem Schulfreund Harry Schebach durch Österreich, Südtirol, das nördliche Italien bis nach Palermo getrampt. Wie großartig war Venedig, der zur Realität gewordene Traum einer Stadt in der Lagune! Oder Florenz mit seinen Kunstschätzen! Oder Rom, die Ewige Stadt, mit ihren Boten des Altertums, mit der Vatikanstadt, dem Petersdom …
Von Neapel nahmen wir die Fähre nach Capri. Bei der Überfahrt lernten wir andere Jungen kennen – aus Deutschland, Belgien und Frankreich. Wir beschlossen, ein informelles Ferienlager unweit der berühmten Blauen Grotte zu errichten.
An ruhigen Tagen schwammen wir in die Blaue Grotte hinein. Eines Tages war das Meer unruhig, und die Wellen schlugen an der Felswand empor. Ein Mann versuchte uns davon abzuhalten, an diesem Tag ins Wasser zu gehen. Als wir nicht auf ihn hören wollten, kniete er sich vor einem Kreuz am Rande des Pfades nieder und fing an, für uns zu beten. Nach einiger Zeit kletterten meine Freunde aus dem Wasser, sichtlich mit Mühe, denn die Wellen gingen hoch und nieder.
Nur ich war voller Übermut – vielleicht hatte ich auch zu viel Rotwein getrunken – und blieb noch länger im Wasser. Wenn es die anderen schafften, würde es mir allemal gelingen! Nur legte der Wind sichtlich zu, und die Wellen wurden immer höher. Ich versuchte an Land zu klettern: vergeblich! Die Wellen rissen mich immer wieder zurück. Meine Finger hatte ich mir an den Felsen aufgerissen. Meine Freunde versuchten, herunterzuklettern, um mir zu helfen. Plötzlich gestikulierten sie, winkten mir zu und zeigten aufs offene Wasser. Ein Boot war die Küste entlanggekommen. Die Insassen bemerkten, dass es ein Problem gab. Ich schwamm dem Boot entgegen und wurde an Bord genommen. Es war noch einmal gut gegangen. Mir wurde aber bewusst, dass das Abenteuer auch ein böses Ende hätte nehmen können.
Der Entschluss, nach Indien zu fahren, war gefasst. Wenn ich meine Motive heute selbstkritisch prüfe, ist mir klar: Es ging mir nicht nur um Sinnsuche, um den richtigen Weg durchs Leben. Es war auch die Lust auf Abenteuer und eine Neugier, die mich mein ganzes Leben begleiten würde: Wenn ich bisher die Blaue Blume nicht gefunden hatte, dann musste sie wohl im nächsten Tal, hinter dem nächsten Kap auf mich warten. Also los!
Nachdem ich den Sommer lang durch Italien getrampt war, erschien mir die vom Internat im Neukloster erzwungene Disziplin allzu rigoros und beengend. Ich brauchte mehr Luft zum Atmen, mehr Freiheit, das zu tun, was ich wollte. Außerdem machte ich die erstaunliche Entdeckung, dass Mädchen plötzlich viel interessanter wurden, als sie dies in den Jahren zuvor gewesen waren. Auch aus der Distanz betrachtet, übten sie eine gewaltige Anziehung auf mich aus. Wir Schüler aus dem Neukloster änderten unseren Weg zum Gymnasium, um sicher zu sein, dass wir am Mädchengymnasium vorbeikommen würden. Die Mädchen blickten aus den Fenstern. Und wir taten so, als würde uns dies überhaupt nicht interessieren.
Eines Tages hörte ich zwei der jungen Damen singen: „Zwei Märchenaugen, wie die Sterne so schön …“ Ich dachte mir nichts, bis einer meiner Mitschüler sagte: „Merkst du nicht, die singen über dich!“ Nein, ich hatte ich es nicht gemerkt. Ich blickte zum Fenster hinauf: Sie lächelten und winkten mir zu! Das war mir denkbar peinlich. Von da an wählte ich einen anderen Weg zur Schule.
Zu den mutigsten Taten meines Lebens zählt, dass ich im Alter von sechzehn Jahren mein Herz in die Hand nahm und ein Mädchen ansprach. Sie hatte grüne Augen, rotes Haar und hieß Dina – ich habe sie bis heute nicht vergessen. Wir plauderten und spazierten einige Straßenblöcke entlang und wiederholten dies in den folgenden Tagen. Aber das war auch schon alles. Meine Jahre in einer Knabenschule und im Internat hatten mich nicht darauf vorbereitet, mit Mädchen einen natürlichen Umgang zu pflegen.
Ich bat meine Eltern, die letzten beiden Klassen des Gymnasiums in Baden bei Wien besuchen zu dürfen. Bei den Tanzkursen lernte ich, meine Scheu gegenüber Mädchen zu reduzieren.
An meine Tanzpartnerinnen erinnere ich mich gut. Zu einer fühlte ich mich besonders hingezogen, und wir gingen zu mehreren Bällen – oft bis in die frühen Morgenstunden. Anschließend begleitete ich sie nach Hause. Aber offensichtlich erschien ich ihr zu unreif oder zu wenig wagemutig.
Eine andere war eine echte Schönheit, schwarzes Haar und blaue Augen. Sie hätte mit den meisten Schauspielerinnen mithalten können. Eines Tages, als ich nicht nur ihre Lippen küsste, sagte sie: „Ihr Männer seid doch alle gleich! Ich weiß schon, was du willst!“ Und sie fügte hinzu: „Ich werde mir von meiner älteren Schwester den Ring ausborgen und dich um acht Uhr heute Abend im Kurpark treffen!“ Ich hatte nur eine vage Vorstellung davon, was sie meinte. Also wartete ich, bis sie verspätet eintraf. Allerdings muss ich mich danach so ungeschickt und schüchtern angestellt haben, dass nicht allzu viel Intimität entstand. Im Nachhinein schämte ich mich und war ihr gegenüber noch gehemmter als zuvor.
Ich tanzte leidenschaftlich gern und wurde als passabler bis guter Tänzer angesehen. Aber im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere im Bereich der Intimität, war ich gehemmt. Manches Mal fragte ich mich, ob die Erziehung in reinen Knabenschulen, in der Klosterschule, zu tiefe Spuren hinterlassen hatte.
Unbewusst war meine Einstellung zur Sexualität wohl auch durch zwei Kindheitserlebnisse mitgeprägt worden. Das erste Erlebnis hatte ich im Alter von drei oder vier Jahren. Für einige Monate arbeitete ein Mädchen als eine Art Kindermädchen bei uns. Ich erinnere mich, wie sie mich eines Tages unter der Decke ihres Bettes zwischen die Schenkel klemmte und mich zusammendrückte. Ich hatte Angst, erdrückt zu werden oder zu ersticken, und begann zu weinen: „Lass mich los, lass mich los!“ Darauf zog sie mich aufwärts zwischen ihren Beinen hoch. Ich beruhigte mich erst, als ich wieder frische Luft zum Atmen verspürte. Dieses Mädchen blieb nicht lange bei uns, aus welchen Gründen auch immer.
Das zweite Erlebnis war in Wien mit Traudl in meinem achten Lebensjahr. Es begann an einem Sonntagmorgen mit einer Polsterschlacht und einem Ringkampf im Doppelbett ihrer Eltern, die bereits aufgestanden waren und deshalb nicht im Zimmer waren. Ich hielt Traudl schließlich fest, umklammerte sie mit Armen und Beinen und rief: „Ich bin der Sieger! Ich bin der Sieger!“ In diesem Augenblick verspürte ich eine Welle von Lust und süßer Erfüllung, die von meinen Hüften ausging und mich fast lähmte. Was dieses Gefühl tatsächlich bedeutete, wusste ich nicht. Es war jedenfalls ein völlig neuartiges Gefühl. Ähnliche Erfahrungen sollte ich erst wieder in der Pubertät machen.
Die beiden Erlebnisse bestimmten wohl mein unterbewusstes Bild von Sexualität als etwas Beängstigendem, Bedrohlichem, Bedrückendem. Andererseits lockten Lust, Süße und Befriedigung. Später sollte noch die Indoktrination in der Klosterschule hinzukommen: „Sexualität ist etwas Unreines, eine Sünde. Man muss sich dafür schämen!“
Die Geschichte meiner Jugendjahre ist unter anderem ein Reflex der Suche nach Sinn in dieser Hinsicht. Und mein jugendlicher „Ausbruch“ aus der europäischen Gesellschaft ist auch als ein Kampf um die persönliche Freiheit, um einen natürlichen Umgang mit dem anderen Geschlecht zu sehen.
Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr musste ich meinem Vater bei der Arbeit im Wald helfen, das war aus wirtschaftlicher Sicht notwendig. Statt der Arbeit als Holzfäller hatte mein Vater – wie schon erwähnt – begonnen, in den Ländereien des Stifts Heiligenkreuz als Pecher zu arbeiten. Durch Anritzen der Kiefernrinde mit einem Hobel wurden Bahnen geschaffen, in denen das Harz in angehängte tönerne Gefäße floss. Diese mussten von Zeit zu Zeit in eine Butte – ein Holzgefäß mit einem langen Stützelement – entleert werden, die unter den Ellenbogen geklemmt werden konnte. Diese wiederum wurden in Holzfässer geleert, die mit hölzernen Schlitten zu Tal befördert wurden.
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