Das klingt einfach, war es aber nicht: Sobald das Harz in einer Rinne verhärtete, musste die Rinne gereinigt werden. Jährlich musste weiter oben eine weitere Rinne geritzt werden. Bei mehreren Rillen – wir legten höchstens acht bis zehn Rillen an – war eine Leiter nötig, um überhaupt an die neue, zu schaffende Rille heranzukommen. Eine „Zehnerleiter“ war fast drei Meter lang. Sie hatte unterschiedlich lange Füße, damit sie am Steilhang eingesetzt werden konnte. Und Steilhänge gab es mehr als genug im Wiener Wald.
Die am Boden liegenden Nadeln stellten zwar einen Teppich dar, am Hang jedoch rutschte man sehr leicht auf ihnen aus. Um die Risiken zu minimieren, trugen wir lederne Schuhe mit Eisennägeln. Sie gaben den Knöcheln einen gewissen Halt.
Es war schwere körperliche Arbeit: Aufstehen um vier, frühstücken, zu Fuß manches Mal bis zu einer Stunde in die Berge hinaufgehen, den Hobel und die Leiter schleppen, später dann die hölzerne Butte. Am gefährlichsten war der Abtransport der vollen Fässer mit dem Holzschlitten. Wenn dieser am Steilhang außer Kontrolle geraten wäre, wäre er nicht mehr zu halten gewesen, und der Mann vor dem Schlitten hätte überfahren werden können. Es war eine körperliche Ertüchtigung sondergleichen. Ich hatte damals kein Gramm Fett am Bauch.
Eine Szene aus dem Badener Strandbad: Wir stehen zu fünft oder sechst im Kreis und unterhalten uns über Gott und die Welt. Plötzlich merke ich, dass eines der Mädchen lächelt und auf meinen Bauch blickt. „Weshalb lachst du? Was ist los mit meinem Bauch?“ Ihre Antwort: „Nichts. Er sieht nur aus wie ein Waschbrett!“ Solche Komplimente sollte ich in meinem späteren Leben nie wieder bekommen!
In dieser Zeit nahm ich an einem Geländelauf im Badener Kurpark und den darüberliegenden Bergen teil – ohne jegliche Vorbereitung. Aus dem Feld von über zwanzig Läufern belegte ich auf Anhieb den zweiten Platz. Den ersten hatte der um etliche Jahre ältere Langstreckenläufer Senekovic erreicht – er war niederösterreichischer Landesmeister. Mein Vater schien von dieser Leistung mehr beeindruckt zu sein als von meinen schulischen Leistungen als Klassenbester, war er doch selbst äußerst sportlich und fit. Bereits Jahre zuvor hatte er gesagt: „Wenn du mit deiner ganzen Kraft dein Bestes gibst, bin ich – vielleicht – ein wenig mit dir zufrieden!“
Im Anschluss an den Geländelauf gab es eine Gesellschaft: Die Läufer trafen mit anderen Jugendlichen zusammen, zum Essen und Plaudern. Unter den Anwesenden waren zwei Schwestern, die die Veranstaltung betreuten. Ich war aus dem Helenental mit dem Bus angereist. Als ich darauf hinwies, dass ich zu dieser spätnachmittäglichen Stunde keinen Bus mehr nehmen konnte und etliche Kilometer Fußweg vor mir hatte, bot eine der Schwestern – bildhübsch, blond, mit wohlgeformten Proportionen – an, mich mit ihrem Roller nach Hause zu fahren. Ich nahm dieses Angebot sehr gerne an, hatte ich doch vorher schon ausgiebig mit ihr geflirtet.
Kurz bevor wir im Helenental angekommen waren, beugte ich mich nach vorne und küsste sie auf die Schulter. Glücklicherweise schwankte sie nur wenig mit dem Roller, sonst wären wir wohl im Straßengraben gelandet. Als sie mich bei mir zu Hause absetzte, drückte ich ihr einen hastigen Kuss auf die Wange. Dann ging ich schnell zum Tor hinein.
Die nächsten Tage fuhr ich wieder mit meinem Rad Richtung Baden. Und wer kam mir per Roller entgegen? Die junge Dame! Sie hielt sofort an. Auch ich war vom Rad gestiegen: „Was bringt dich ins Helenental?“, fragte ich.
„Ich ... ich ... wollte nur ein wenig spazieren fahren!“
„Ach so!“
Sie blickte mich an. Ich blickte sie an. Dann packte mich wieder eine beklemmende Scheu. Ich sagte stotternd: „Ja … dann ... viel Spaß! Servus!“ Und stieg aufs Rad. Meine Angst vor dem Neuen war wohl größer als die Anziehungskraft dieses attraktiven weiblichen Wesens! Später würde es mir leid tun, dass mir nichts Besseres eingefallen war und dass ich nichts Verwegeneres gesagt hatte. Wer zu furchtsam ist, den bestraft das Leben!
Die Landschaft im Wiener Wald auf beiden Seiten des Helenentals ist großartig: Von einer Talmulde aus, in der das Haus stand, das uns vom Stift zur Verfügung gestellt wurde, geht der Kleespitz steil in die Höhe. Vom Haus aus ging der Blick zu einem Aussichtspunkt auf einem Felsen: Von diesem aus blickte ich oft nach Osten, in Richtung Baden bei Wien, über die folgende Ebene und weiter hinaus. Und ich träumte von Indien, das weit im Südosten liegen musste.
Aber wie sollte ich es schaffen, nach der Matura mit achtzehn Jahren in Richtung Indien aufzubrechen – ohne Geld, ohne dass mir meine Eltern helfen konnten?
Die siebte und achte – also die beiden letzten – Klassen des Gymnasiums fielen mir nicht schwer, dafür hatten die Jahre zuvor die Voraussetzungen geschaffen. Ich begann mein Lernen zu reduzieren und auf die Klassenstunden zu konzentrieren, ohne dabei meinen Status als Klassenbester zu gefährden. Eine Belohnung war sicherlich, dass ich als einziger Schüler des Badener Gymnasiums an der Generalprobe zur für den 5. November 1955 geplanten feierlichen Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper teilnehmen durfte. Gespielt wurde Beethovens Fidelio . Dass die Wahl auf mich fiel, wunderte mich dennoch, denn ich war trotz meiner schulischen Leistungen bei Lehrern und dem Direktor Christl unbeliebt geworden: Ich war offensichtlich zu aufmüpfig und zu schwer zu kontrollieren.
Während des Aufstands der Ungarn gegen die kommunistische Herrschaft im Jahr 1956 hatte ich zu meinen Klassenkameraden gesagt, dass ich nach Ungarn gehen und gegen die Russen kämpfen wollte. Dies war ein lächerlicher Vorschlag, aber man traute es mir offensichtlich zu, genau das zu tun. Direktor Christl bekam Wind davon: Er informierte mich, dass ich im hohen Bogen aus der Schule fliegen würde, wenn ich dieses Unternehmen durchführen würde.
Ein weiterer Anlass brachte mich ins Blickfeld des Direktors. Ich schloss mich der Österreichischen Jugendbewegung (ÖJB) an, eine Jugendorganisation der Österreichischen Volkspartei, und wurde zum Bezirkssekretär für das Österreichische Jungvolk im Bezirk Baden bei Wien ernannt. Und ich war Mitglied im Vorstand der ÖJB in Baden bei Wien. Dadurch hatte ich den Schlüssel und somit den Zugang zum 1. Stock des „Batzenhäusls“ neben dem Badener Stadttheater, wo die Veranstaltungen der ÖJB stattfanden.
Wie aus meiner ÖJB-Mitgliedschaft ersichtlich, dominierte bei mir ein christlich-konservatives Weltbild: Elternhaus und Stift Heiligenkreuz hatten dazu wesentlich beigetragen. Wie bei Familien von Vertriebenen üblich, machte ich „die Russen“ und „die Ungarn“ für die Enteignung und Vertreibung aus Ungarn verantwortlich. Der Gedanke, dass diese sicher ungerechten Handlungen eine Retourkutsche für die von Hitler-Deutschland initiierten Verbrechen waren, kam mir nicht in den Sinn. Die zwei Jahre bei der Familie Logotka zeigten mir zwar, dass es auch eine andere Sichtweise auf das konservative Politikmodell und den damit verbundenen Kapitalismus gab. Aber offensichtlich hatte sich diese bei mir nicht auf Dauer festgesetzt. Über den Holocaust wurde in der Regel nicht gesprochen. Die Vertriebenen sahen sich als Opfer, nicht als Täter.
Doch einige Zweifel waren vorhanden, ob das bestehende kapitalistische Wirtschaftssystem verbunden mit dem christlich-konservativen Weltbild in seiner damaligen Form dem Ideal entsprach. Das kommunistische Gegenmodell hatte zumindest in der Theorie seine positiven Seiten, zeigte doch die kommunistische Ideologie einige bemerkenswerte Parallelen zu christlichen Idealen, von denen Marx zweifelsohne inspiriert worden war.
Langsam erdachte ich einen pragmatischen Test, der auf eigenen Beobachtungen und Erfahrungen basieren sollte. Ich wollte ein Jahr in den USA und ein weiteres Jahr in der Sowjetunion verbringen und mich danach endgültig politisch orientieren.
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