Jetzt hatte ich aber wirklich die Schnauze voll – der nächste, der mich schräg von der Seite ansah – oder Gott behüte anquatschte – kriegte eins reingewürgt! Ich raffte meine Tasche an mich, stopfte den sinnlosen Stellenteil hinein und trabte los, in die Rheinbergerstraße. Hässlich war es hier... ich hatte ja gehofft, mir nach einiger Zeit bei MediAdvert einen Umzug leisten zu können, aber das konnte ich jetzt wohl erst mal vergessen.
Die Rheinbergerstraße – benannt nach Mathilde Rheinberger, die um 1880 als Heroine am Stadttheater Starstatus genossen und ihr Vermögen dann der Stadt vermacht hatte – war lang, baumlos und auf beiden Seiten mit Backsteinbauten verschandelt. Hauptsächlich Kleinbetriebe, Autowerkstätten, die aussahen, als könnte man hier auch gefälschte Kennzeichen kriegen, Elektronikbastler, deren Zubehör wahrscheinlich vom Laster gefallen war, zweifelhafte Kneipen, Getränkemärkte, die so gut wie nichts Alkoholfreies führten, dazwischen ein Asia-Imbiss, der so scheußlich kochte, dass seine wahren Einkünfte wahrscheinlich aus dem traditionellen Handel mit geschmuggelten Zigaretten herrührten. Ab und an ein Wohnhaus wie das, in dem ich lebte – drei Etagen, in jeder vier Einzimmerappartements, leicht vergammelt, aber konkurrenzlos billig, was die Miete betraf. Und an der Ecke Ifflandweg gab´s einen 24/7-Waschsalon. Obskur, was die Mitwascher betraf, aber mit funktionsfähigen Maschinen und Trocknern. Außerdem hatte die Meinradstraße – knapp zehn Minuten entfernt – einen Billigmarkt aufzuweisen, und mehr brauchte ich bei meiner Finanzlage nun wirklich nicht.
Immerhin hatten wir einen Vorgarten – echter Luxus! Links und rechts des Plattenwegs, der unter das schief hängende Vordach aus gelbgrau verfärbtem Kunststoff führte, sah man matschigen Rasen, teilweise schneebedeckt, darauf einen zerbrochenen Schlitten, einen einzelnen gelben Wollhandschuh, so viele Kippen, dass wohl jemand seinen Autoaschenbecher hier ausgeleert haben musste, eine Plastiktüte vom Billigmarkt, die müde im Wind flatterte, aber nicht von der Stelle konnte, weil sie von zwei Pflastersteinen beschwert wurde, und eine verrostete Fahrradklingel.
Die Hundekacke zierte natürlich nicht den Rasen, sondern den Plattenweg – ich wich ihr im letzten Moment aus und stieß die Haustür auf. Während ich entenartig die Treppe in den zweiten, obersten Stock erklomm, begann ich, in meiner Tasche herumzuwühlen. Hausschlüssel – der verkroch sich immer sonst wo. Normalerweise hatte ich ihn in der Hosentasche, aber das blöde Kostüm hatte ja keine Taschen.
Nichts. Vielleicht im Seitenfach, ich musste ja bloß die Tasche mal richtig ausräumen. Auf dem Absatz vor meiner Etage gab es ein schmieriges Fenster mit einem merkwürdigerweise blitzblanken Fensterbrett. Dort räumte ich die Tasche komplett aus und drehte sie schließlich sogar um – nichts. Mein Hausschlüssel war weg!
3: Dienstag, 11. Februar 2003
Das konnte doch gar nicht sein! Oder hatte ich ihn heute Morgen vergessen? Nein... den Autoschlüssel hatte ich ja auch gehabt, und der hing mit dran. Also hatte ich ihn mitgenommen – ob mich im Bus einer beklaut hatte? Die Tasche war zu gewesen, Reißverschluss und Lasche mit Druckknopf. Nein, das hätte ich gemerkt. Und ein Taschendieb hätte mir doch wohl eher den Geldbeutel geklaut, aber der war unübersehbar noch da. Die Manteltaschen waren auch leer. Verdammt, wo konnte der Schlüssel sein?
Rausgefallen? Aber dazu war er zu schwer... Es hätte fürchterlich klirren müssen. Klirren... Heute hatte es mal geklirrt, fiel mir ein, aber wann? Und wo?
Genau – bei Hamm! Kurz vor meinem unrühmlichen Abgang hatte ich doch meine Tasche vom Tisch gefegt und dann alles hastig wieder aufgesammelt – dabei musste ich den Schlüsselbund übersehen haben. Sicher lag er dort immer noch unter dem Tisch.
Halb sieben... Wahrscheinlich war dort längst zu, aber vielleicht hatten die ja einen Nachtwächter oder Hausmeister oder sonst einen, der mir weiter helfen konnte. Tja, das half ja nun nichts – ich musste noch mal zurück, sonst blieb mir nichts übrig, als im Treppenhaus zu pennen und morgen meinen Wagen kurzzuschließen. Mal davon abgesehen, dass ich so was gar nicht konnte. Soo bildend war Fernsehen nun auch wieder nicht.
Also zurück zur Bushaltestelle, verdammt. Und es war noch kälter geworden und hatte wieder leicht zu schneien begonnen. Shit happens – und wenn, dann gleich richtig. Andererseits kam der Neuner schon nach zehn Minuten, und er war auch ziemlich leer – wer fuhr um diese Zeit schon in ein Industriegebiet?
Ich setzte mich auf einen Fensterplatz und starrte nach draußen, aber außer ein paar Straßenlaternen sah ich bloß mein eigenes verschmiertes Spiegelbild – müde, deprimiert und derangiert. Wirre Haare, aufgelöstes Make up, Ringe unter den Augen. Wenn schon – Tom würde ich jetzt auch nicht über den Weg laufen, und selbst wenn: Er stand ja auf Carla. Carla mit der Sanduhrfigur und den Kulleraugen. Da konnte ich nicht mithalten.
Als der Bus hielt, stieg ich lustlos aus und schlappte durch die glitschige dünne Schneeschicht die Straße entlang bis zur Hamm KG. Zehn nach sieben – ob dort überhaupt noch einer war? Pförtner schien es keinen zu geben, aber das Gebäude war nicht abgeschlossen. Waren die so leichtsinnig oder so fleißig? Viel Licht hatte ich in den Fenstern nicht mehr gesehen.
Im Hintergrund der Halle entdeckte ich einen Aufzug – sehr gut, Treppensteigen war mit diesen Schuhen keine besondere Freude. Zweiter Stock... ich trat in einen leeren Gang, nur von einer grünlichen Notbeleuchtung erhellt, und tappte bis zum Ende. Der Konferenzraum war tatsächlich noch offen! Die waren hier wirklich leichtsinnig. Ich schaltete das Licht ein, und da lag er, mein Schlüsselbund – dick und fett unter dem Tisch. Putzen taten die hier wohl auch nicht? Hastig steckte ich den Schlüssel ein, löschte das Licht und schlich den grünlichen Gang wieder zurück. Meine Pechsträhne schien nachzulassen – der Aufzug stand mit einladend offenen Türen da. Ich stolperte hinein und drückte auf E.
Lautlos schlossen sich die Türen, und der Lift setzte sich in Bewegung – aber nach oben. Mist! Im siebten Stock hielt er, und ein Mann trat ein, in der linken einen Pilotenkoffer (scheußliches Teil), in der Rechten eine Handvoll Papiere, in denen er las. Er grunzte kurz, ohne aufzusehen. „Drücken Sie mal T, bitte.“
Ich drückte T und starrte dann auf die Tafel an der Wand. Nächster TÜV 4/2003 Max. Gewicht 750 kg (8 Personen) Planzer Aufzüge .
Darunter 7-6-5-4-3-2-1-E-T-U-Notruf-Tür auf .
Tja, mehr gab´s hier nicht zu lesen. „Ganz schön spät schon“, sagte der Mann.
Ich gab einen zustimmenden Laut von mir, aber drehte mich nicht um. Wenn ich ihn nicht sah, konnte er mich auch nicht sehen... schließlich hatte ich hier eigentlich nichts zu suchen.
„Ich kenne Sie doch! Was machen Sie denn noch hier?“
Was? Ich fuhr herum. „Ach, Sie“, sagte ich dann missvergnügt. Der blöde Hund, der meine Präsentation nicht so überzeugend gefunden hatte! „Und, was machen Sie hier – um diese Zeit?“ Er sah mich streng an.
„Wenn Sie glauben, ich wollte hier was ausspionieren oder was klauen, sind Sie schief gewickelt“, fauchte ich. „Ich hab nur meinen Schlüssel geholt, der mir heute Morgen aus der Tasche gefallen war.“
„Ach ja?“
„Ach ja!“
„Herzeigen!“ Ich fischte den Schlüsselbund aus der Tasche und hielt ihn ihm vor die Nase. Ganz schön verknittert, der Kerl. Vielleicht sollte er seinen Anzug mal bügeln lassen. „Tatsächlich.“
Er verstummte. Vielleicht war ihm jetzt eingefallen, dass das überhaupt kein Beweis für meine Behauptung war. „Und wieso jetzt erst?“, fing er dann wieder an. Bevor ich antworten konnte, blieb der Lift mit einem verdächtigen Knirschlaut stehen, und das Licht wurde merklich trüber. Notbeleuchtung? Der struppige Kerl sah auf die Uhr, erfolglos.
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