Das klang sehr logisch. Jahrhundertelange Entwicklung ließ sich nicht in ein paar Generationen wieder rückgängig machen. Außerdem gab es offenbar „Mischlinge“, bei denen Fell- und Haarfarbe verschieden waren.
„Nimm Ardesh als Beispiel.“ Temi überlegte. Wer war Ardesh? Kehvu beantwortete ihre unausgesprochene Frage prompt: „Der rothaarige Kommandant, den wir eben gesehen haben. Er gehört zu den Beratern des Königs. Seine Vorfahren eroberten im Ersten Krieg gemeinsam mit den Stadtbewohnern unsere Stadt zurück und blieben hier. Dennoch sieht er aus wie ein typischer Waldbewohner.“
„Du sagst ‚der Erste Krieg’“, hakte Temi nach. „Aireion erzählte mir nur von einem.“
Kehvu seufzte leise. Er fing so zögernd an – als hätte er ein schlechtes Gewissen.
„Nun ... Nein, es gab keinen weiteren Krieg.“, antwortete er stockend. „Aber – ich zweifle nicht an deinem Herzen, an deinem Mut und guten Willen – aber ... selbst wenn Aireion dich zu den Menschen gehen lässt: Die Chance, dass du die Berater des Königs dort zur Vernunft bringen kannst und dass Xanthyos so lange seine Krieger zurückhält, ist meiner Meinung nach äußerst gering. Wir stehen so kurz vor einem Krieg. Ich fürchte, er lässt sich nicht verhindern. Nicht von dir und nicht vom Herrn des Todes selbst.“
Temi nickte. Sie verstand gut, dass Kehvu nicht daran glaubte, dass sie etwas ausrichten konnte. Sie glaubte es ja selbst nicht. Doch das erinnerte sie an den Spruch, den jemand an die Außenwände der Universitätsbibliothek gesprüht hatte: „Du hast keine Chance, also nutze sie.“ Genau das wollte sie tun.
Die beiden Kentaurenkinder mit dem braunen Fell trauten sich wieder in ihre Nähe und als sie merkten, dass der Mensch sie nicht plötzlich anfiel, vergaßen sie ihre Furcht sofort. Lachend liefen sie ein paar Meter vor ihnen her. Der Übergang zum menschlichen Körper war bei ihnen noch nicht so verwachsen wie bei den Erwachsenen. Bei den jungen Kentauren gingen Haut und Fell ziemlich abrupt ineinander über. Temi musste bei dem Anblick fast lachen.
Der Junge und das Mädchen maßen spielerisch ihre Kräfte, indem sie versuchten, sich gegenseitig wegzuschieben. Keiner von beiden wich von der Stelle, bis das Mädchen plötzlich zur Seite sprang. Der Junge verlor den Halt und stolperte, mit den Armen rudernd, nach vorne und taumelte genau gegen Kehvus Beine. Der schnaubte über diese ungewollte „Attacke“, während Temi sich ein Grinsen verkniff.
Plötzlich drückte etwas Flauschiges gegen Temis Schienbein. Sie sah nach unten und bemerkte zu ihrem Erstaunen den kleinen schwarzen Kater, der verschwunden war, als auf der Wiese Xanthyos‘ Kentauren nähergekommen waren. Es schien mittlerweile Tage her. Sie hob das maunzende Kätzchen auf und strich ihm über den kleinen Kopf. Der Kater schnurrte ununterbrochen.
„Was ist das?“, fragte Kehvu so perplex, dass Temi irritiert war. Kannte man diese Tiere hier etwa nicht? „Eine Katze“, erwiderte sie unsicher.
Der Kentaur schüttelte amüsiert den Kopf. „Das weiß ich!“, sagte er. „Es ist die einzige Katze hier in Thaelessa. Ein seltsames Tier“, fuhr er fort und zog seine Augenbrauen zusammen. „Ich habe noch nie gesehen, dass es sich von jemandem anfassen lässt.“ Er streckte seine Hand aus, aber da legte der kleine Kater seine Ohren nach hinten, rollte sich zu einer fluffigen Fellkugel zusammen und fauchte. Kehvu lachte und zog seinen Arm zurück.
Sofort entspannte sich der Kater wieder und schnurrte weiter. Temi schmunzelte und gab ihm einen Kuss auf den Kopf. „Tja, Thanatos hat halt einen guten Geschmack.“
„Was hast du gesagt?!“, entfuhr es Kehvu. Er starrte sie mit großen Augen an. Temi wich bei dieser unerwartet heftigen Reaktion einen Schritt zurück. „Ich ... ich wollte dich nicht beleidigen. Ich habe nur–“ Kehvu schüttelte energisch den Kopf. „Das meine ich nicht. Komm, wir müssen zurück zu Aireion.“
Temi verstand diesen plötzlichen Sinneswandel des bisher eher sanftmütigen Künstlers nicht. Aber Kehvu hatte es auf einmal sehr eilig. „Steig auf!“
Kaum saß sie auf seinem Rücken, rannte er los, als wäre eine Horde Menschen hinter ihm her. Thanatos krallte sich auf ihren Schultern fest. Temi hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten. „Dieser Kater hat sich noch nie von jemandem streicheln lassen“, rief Kehvu erneut über seine Schultern, während er durch die Stadt galoppierte.
„Aus dem Weg!“, warnte er zwei Kentauren, die in ein Gespräch vertieft auf der Straße standen. Temi befürchtete, dass sie jeden Augenblick mit jemandem zusammenstoßen würden, aber der Kentaur wich allen im letzten Moment aus. Erst vor dem Tor der Veste wurde er langsamer. Die Wachen hatten ihre Lanzen gekreuzt, aber als sie Kehvu erkannten, ließen sie ihn passieren. Im Trab lief Kehvu durch das Tor, in den Gang hinein, durch den Thronsaal und geradewegs zu einer versilberten Tür, vor der zwei weitere gut gepanzerte Wachen standen.
„Wir müssen mit König Aireion sprechen!“, drängte er die Krieger. Die beiden reagierten nicht, sondern blickten einfach an ihnen vorbei. Temi drehte sich um. Dort stand Aireion.
Auch Kehvu war dem Blick der Wachen gefolgt, wandte sich rasch um und verneigte sich. „Mein König, ich dachte, das solltet Ihr sehen!“ Doch der silberhaarige Fürst hatte die Katze bereits auf Temis Arm bemerkt. Er kniff seine Augen zusammen und sah zurück zu dem blonden Kentauren. „Mein lieber Kehvu, es ist zwar erstaunlich, dass sich das Tier von dem Menschenmädchen halten lässt, aber ob das die Aufregung wert ist ...“
„Fragt sie, wie er heißt.“
„Die Katze hat einen Namen?“, fragte Aireion zurück.
„In meiner Welt geben wir unseren Tieren oft Namen. Haustieren eigentlich immer. Ich bin dem Kater gestern schon begegnet und ich kann ihn schließlich nicht ‚Katze‘ nennen, wenn ich mit ihm spreche.“
„Du sprichst mit der Katze?“, fragte Aireion, nicht weniger verwirrt. Zu Temis Erstaunen scharrte Kehvu ungeduldig mit den Hufen. „Sie hat ihn Thanatos genannt“, platzte es aus ihm heraus.
Aireions Kopf ruckte nach oben und einen Moment lang starrte er Kehvu an. Dann den Kater an und dann wieder Temi. „Wie hast du ihn besänftigt?“, fragte er – und seine Stimme zitterte.
„Ich ... eh ...“, stotterte Temi verwirrt. „Ich habe ihn gar nicht ‚besänftigt‘, er ist einfach zu mir gekommen.“
„Thanatos“, flüsterte Aireion, in Gedanken versunken. „Der Herr des Todes ...“ Temi runzelte die Stirn. Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Oder doch! Sie hatte den Kater nach dem griechischen Gott des Todes benannt, ein Name, der offenbar auch den Kentauren geläufig war. Und der die Prophezeiung plötzlich so greifbar machte. War es Zufall oder ein Zeichen? Konnte die Prophezeiung im übertragenen Sinne erfüllt werden? Sie hatte den Tod gezähmt!?
Das war doch zu einfach! Oder?
Temi überlegte. Als der Lyderkönig Kroisos das Orakel von Delphi befragt hatte, um sich den Ausgang seines geplanten Kriegszugs gegen die Perser weissagen zu lassen, hatte das Orakel geantwortet: „Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.“ Kroisos hatte den Spruch ganz in seinem Sinne verstanden, das Persische Reich angegriffen – und letztlich sein eigenes Reich zerstört. Es war geradezu typisch für Prophezeiungen: Sie konnten, mussten oder durften nicht so ausgelegt werden, wie es im ersten Moment den Anschein hatte.
Doch was war mit den anderen Forderungen der Prophezeiung. Ein Mensch, der die Vergeltung nährte? Vielleicht bedeutete es nicht, dass sie den Wunsch nach Vergeltung förderte, sondern im wörtlichen Sinne nährte. Ernährte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Nemesis. Ihre kleine süße rotfellige Katze, der sie den Namen der Göttin der ausgleichenden, strafenden Gerechtigkeit gegeben hatte. Der vergeltenden Gerechtigkeit.
Читать дальше