„Für antike Waffen und Rüstungen, ja. Und Fantasyrüstungen- äh ... Rüstungen und Waffen, die zum Beispiel für Filme ... nein, also die danach geschaffen wurden ... ugh!“ Sie stockte. Wie zum Teufel sollte sie Kehvu dieses Konzept erklären? Filme, Fantasyfilme, Schwerter, die extra für Filmproduktionen kreiert wurden ... Hier gab es Rüstungen nur zu einem Zweck: Zum Schutz im Kampf. Dasselbe galt für Waffen.
„Vergiss es. Ich meine alte Waffen und Rüstungen, die von unseren Vorfahren getragen wurden. Nicht mehr in meiner Zeit.“
„Ah!“ Kehvus Gesicht hellte sich auf. Vielleicht lag es auch an dem grellen Tageslicht, in das sie traten, sobald sie den düsteren Eingang zur Veste durchquert hatten. Sie mussten sich jetzt auf dem Weg befinden, auf dem Xanthyos und sie gestern hereingekommen waren. Wie ewig das schon her zu sein schien!
„So etwas haben wir auch“, sagte Kehvu. „Einige Waffen wurden zusammen mit ihren Besitzern begraben, andere nutzen wir noch heute. Und andere befinden sich sicher noch im Besitz der Familien hier, auch wenn sie niemand mehr benutzen würde, nur noch im Notfall. Ich habe ein Messer zu Hause, das von einem meiner Ur-Ur-Urahnen getragen wurde, mit einer wunderschönen Scheide aus Zedernholz. Es ist ein schönes Erinnerungsstück, wenn auch mit einer sonderbaren Form.“
„Genau das meine ich!“, sagte sie, erleichtert, dass sie um diese unmögliche Erklärung herumkam – auch wenn seine Interpretation nicht so ganz zutraf.
Er schüttelte den Kopf. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass sich eine Menschenfrau für so etwas interessiert.“
Sie wollte gerade protestieren, als Kehvu stehenblieb und nach links zeigte. Dort lag am Ende der Nebenstraße ein kleines Gebäude. Sie vergaß ihren Protest und runzelte die Stirn. Diese Hütte konnte nicht größer sein als ein Raum, zumindest nicht für Kentauren. Das sollte der ganze Kerker sein? Es standen auch keine Wachen davor.
Doch der Eindruck täuschte: Das Häuschen war nur der Eingang zu einem Gang, der unter die Erde führte! Erst als sie den Gang betrat, merkte Temi, wie warm es draußen schon war: Hier unten war es spürbar kühler und das Licht der Fackeln nur spärlich.
Der Gang führte etwa zwei Meter unter die Erde und endete dann in einem Raum, der für Kentauren recht schmal war: Es konnten sich wohl gerade zwei Kentauren gegenüberstellen, ohne mit den Hinterläufen die Wand zu berühren. Er war allerdings recht lang und alle paar Meter gab es zur Linken eine Tür. Zwischen den Türen an der Wand gab es Halter für Fackeln, doch nur an der hintersten loderte das Feuer. Entsprechend dunkel war es, und erst auf den zweiten Blick aus den Augenwinkeln bemerkte Temi die beiden Kentauren, die reglos in den Ecken standen. Sie hatten beide dunkles Fell und dunkle Umhänge über den Schultern. Sie sagten nichts, als Kehvu mit ihr bis zu der beleuchteten Zellentür ging. Es entging Temi nicht, dass sie mit mehreren Speeren an der Wand und zwei Schwertern an der Seite ein ganzes Arsenal von Waffen zur Hand hatten – sollte es einem Gefangenen mal gelingen, die Kerkertür zu öffnen.
„Du solltest nicht zu nah an die Tür gehen“, riss Kehvu sie aus den Gedanken und wies mit dem Kopf auf die massive Holztür, die teilweise mit Eisen beschlagen war. Sie war eingelassen in eine Steinmauer und die Angeln sahen stabil genug aus, um der Kraft eines massigen Pferdekörpers zu widerstehen. Auf Augenhöhe für Kentauren befand sich ein kleines Fenster mit drei fast handgelenkbreiten Eisenstäben. Nichts, was eine noch so starke Hand verbiegen konnte. Es gab natürlich keinen Stuhl und keine Kiste hier und sie konnte Kehvu schlecht bitten, sie auf seinen Rücken zu lassen, deshalb stellte sich Temi einen guten Meter vor die Tür und rief Xanthyos‘ Namen. Einen Moment lang herrschte Stille, dann klapperten Hufe über den Steinboden und der schwarzhaarige Kentaur tauchte am Fenster auf.
„Hallo Menschenmädchen“, sagte er halb spöttisch, halb überrascht. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, sie zu sehen. Nachdenklich blickte er sie an. „Was machst du hier?“, fragte er sie dann. „Hat mein Bruder dir aufgetragen, mich auszufragen?“
„Nein!“, antwortete Temi sofort. „Er hat mir die Entscheidung überlassen, ob du im Kerker bleiben sollst oder nicht.“ Es war ihr rausgerutscht, bevor sie darüber nachdenken konnte, ob es klug war oder nicht, es ihm zu erzählen. Wenn sie sich gegen seine Freilassung entschied, würde er sie hassen, wenn sie sich dafür entschied ... wer wusste schon, was er dann von ihr denken würde.
Xanthyos Augen wurden größer. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. „Dann glaubt mein Bruderherz also auch an die Prophezeiung.“
„Er glaubt, dass du daran glaubst.“
Xanthyos lächelte finster, aber dann wurde seine Miene wieder ernst. „Dann werden sie dich also in die Stadt der Menschen schicken ...“
„Ich glaube nicht, dass man mich irgendwohin schickt. Aber vielleicht ist das mein Weg nach Hause. Zu helfen, so gut ich kann. Und wenn es dazu nötig ist, dass ich in die Menschenstadt gehe, dann will ich das versuchen!“
Xanthyos rümpfte die Nase und schnaubte. „Wenn es zum Krieg kommt, haben die Menschen keine Chance. Dann solltest du nicht in der Stadt sein.“
Temi erschauderte. Das glaubte sie auch – aber noch herrschte kein Krieg. „Willst du wirklich Krieg? In dem auch hunderte Kentauren sterben können? Willst du Rache? Oder doch lieber Gerechtigkeit?“ Xanthyos biss sich auf die Lippen und scharrte nervös mit den Hufen.
„Der Fürst hat dir also vom Tod unseres Bruders erzählt?“, fragte er verärgert. Temi nickte. Er hatte ihr die Frage nicht beantwortet. Sie bemerkte, dass Kehvu auch unruhig mit den Hufen auf dem Steinboden scharrte. Nein, Xanthyos antwortete ihr nicht, aber das änderte nichts an diesem Gefühl, dieser Ahnung, wie auch immer man es nennen wollte, dass er nicht hier im Kerker verrotten durfte. Hoffentlich war es nicht nur das schlechte Gewissen, das sie zu dieser Entscheidung drängte. Sie konnte es einfach nicht mitansehen, wie der stolze Kentaur eingesperrt blieb. Und wenn sie ehrlich war, war ihre Entscheidung schon gestern gefallen. Entschlossen drehte sie sich zu Kehvu um. „Ich möchte, dass er freigelassen wird“, sagte sie leise. Kehvu ließ seine Schultern sinken und wandte sich ab. Er hatte ganz offensichtlich auf eine andere Entscheidung gehofft. Aber der Fürst hatte ihr die Entscheidung überlassen, also war es an ihr, nicht an Kehvu. Sie hoffte nur, dass sie das Richtige tat.
Kehvu nickte. Die Wächter zögerten und erst als Kehvu befahl: „Tut was sie sagt!“, traten sie aus dem Schatten und öffneten sie die Tür.
Xanthyos blieb einen Moment in der Zelle stehen und schritt dann ganz langsam aus seinem Verlies, ohne den Blick von ihr zu lassen – als wären die drei anderen Pferdemenschen Luft. „Ich muss zugeben, du überraschst mich“, sagte er fast sanft und blickte dann den Gang entlang, an dessen Ende man das Tageslicht nur erahnen konnte. „Das schaffen nicht viele. Erst recht nicht Menschen.“
Temi runzelte die Stirn und sah ihn sorgenvoll an: „Du bist frei. Kannst du deine Krieger noch eine Weile zurückhalten? Gib mir eine Chance.“
Welcher Teufel ritt sie? Sie konnte die Prophezeiung nicht erfüllen. Sie hatte auch keine Ideen. Dennoch. Konnte sie tatenlos zusehen, während sie ohnehin nicht nach Hause konnte? Sie atmete tief durch und gab sich selbst die Antwort darauf: NEIN!
Wenn sie sich irgendwo in vorantiker Zeit befanden, dann war eines sicher, was auch immer passierte: Die Menschen würden den Krieg überstehen. Die Kentauren nicht. Aber wenigstens wollte sie versuchen, zu verhindern, dass die Kentauren ausgerottet wurden.
„Ich werde zu den Menschen gehen. Wenn sie euch für barbarisch und unzivilisiert halten, werde ich ihnen die Wahrheit erzählen.“
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