1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Als Aireion die Tür erreichte, blieb er nocheinmal stehen. Temi sah nur seinen Rücken, seinen ständig hin und her zuckenden Pferdeschwanz. Angespannt wartete sie auf seine Antwort: „Ja, ich kenne ihn gut.“ Seine Stimme war leise, aber dennoch klar verständlich. „Er ist mein Bruder.“
Temi starrte noch lange die Tür an, durch die er verschwunden war. Eigentlich hätte sie es sich denken können. Das war der Grund, warum die anderen Xanthyos mit „Majestät“ anredeten – natürlich hätte er auch ein Anwärter auf den Thron, ein Konkurrent sein können. Doch hätte ein erbitterter Rivale Aireion so respektlos ansprechen können, ohne dafür bestraft zu werden?
Und es erklärte auch, warum ihn der Tod des Fürstensohnes so getroffen hatte: Es war schließlich auch sein Bruder gewesen.
Und Aireion? Wie schwer musste es für ihn sein, dass sein eigener Bruder ihn so verachtete und für unfähig hielt? Dass er seinen Bruder in den Kerker werfen musste, um den Frieden zu bewahren, da der grimmige Rebell in Freiheit zu gefährlich war?
Temi schluckte. Der Fürst war verschwunden, ohne ihre Antwort abzuwarten, und hatte sie ihren Gedanken überlassen. Sie stand alleine im Innenhof, doch sie hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde, auch wenn sie niemanden sah. Sie würde in Aireions Position nichts anderes befehlen.
Was also sollte sie nun tun? Aireion zu folgen kam nicht in Frage; er hatte sie quasi entlassen und sie hatte keine Ahnung, wo sie landen würde, wenn sie eine der Türen an den Seiten des Thronsaals öffnete.
Suchend sah sich Temi um. Erst jetzt bemerkte sie Malereien an einigen der Säulen. Neugierig trat sie näher. Das war unglaublich. In Italien hatte sie Wandbilder mit unheimlich zarten Pinselstrichen gesehen, realistisch und schön, wie die Naturszene in der Villa di Livia, und eindrucksvolle Mosaike wie das Alexandermosaik im Haus des Faun. Aber die Malerei hier war atemberaubend. Und das konnte Kehvu nicht alles alleine gemalt haben; es musste noch mehr begnadete Künstler geben.
Vorsichtig berührte sie das Bild des dunkelhaarigen jungen Kentauren in silber glänzender Rüstung. War das Xanthyos, als er noch im Palast lebte und hier mit Aireion um die Wette lief? Er auf der einen Seite der Säule, sein Bruder auf der anderen, das Ziel direkt vor ihr als Betrachter. Das Ganze wirkte durch feine Relieferhebungen räumlich. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Die Zeiten hatten sich geändert. Aber sie wünschte sich, die beiden wieder zusammenzubringen. Xanthyos hatte ihr das Leben gerettet. Schuldete sie ihm da nicht ihre Hilfe?
Und was war mit der Prophezeiung? Sie liebte Kentauren, wie die Prophezeiung es verlangte, aber ihr Herz in Stücke zu reißen? Einen Kentauren töten? Das würde sie nicht! Und den Tod zu zähmen? Hieß das, nicht zu sterben? Das konnte kein Mensch! Bedeutete das also, dass niemand helfen, niemand den Krieg verhindern konnte? Die Vergeltung nähren ... das klang eher so, als sollte sie das Feuer schüren als den Konflikt zu verhindern.
Plötzlich fühlte sie sich müde und mutlos und ließ ihre Schultern sinken.
Aber wer sagte, dass der Orakelspruch stimmte? Vielleicht war er auch im Laufe der Überlieferung immer weiter verändert worden. Sollte sie unabhängig davon versuchen, zu helfen? Aber wie? Sie kannte niemanden hier und viel hinderlicher: Niemand kannte sie. Warum sollte da irgendjemand auf sie hören? Andererseits: Sie liebte Kentauren. Und sie war hierhergeraten. Nicht irgendjemand, der nicht einmal wusste, was Kentauren waren, oder der sich nicht für griechische Mythen interessierte, oder dessen Lieblingsgestalten Greife waren, oder der Minotaurus. Nein, sie. Die für Kentauren schwärmte. Das war schon ein ziemlich großer Zufall.
Was konnte und sollte sie tun? Sollte sie Aireion ihre Hilfe anbieten? Konnte sie vielleicht – von Mensch zu Mensch – leichter mit dem Thronfolger der Menschen sprechen? Ihn an die Zeit erinnern, als er mit Aireion aufgewachsen war? Oder sollte sie einfach in Thaelessa warten, bis sie irgendwann wieder nach Hause kam?
Was, wenn es keinen Rückweg gab? Die anderen Menschen, die aus ihrer Welt hierhergelangt waren, waren vielleicht gestorben – war helfen der einzige Weg, um zu entkommen? Temis Puls schoss in die Höhe und ihr Atem wurde immer schneller. Sie schlang ihre Hände ineinander und presste Fingernägel in ihre Haut. Beruhig dich! , versuchte sie, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Du weißt nicht mal, wo du bist! Vielleicht kennen die Kentauren den Weg ja auch! Vielleicht kennen ihn die Menschen in Šadurru. Vielleicht haben die Außenweltler es einfach nicht geschafft. Oder sie haben einen einfachen Weg zurück gefunden, bevor sie den Kentauren überhaupt begegnet sind!
Langsam ließ das Zittern ihrer Hände nach und sie nahm sich vor, diese Fragen gleich als Erstes zu klären, sobald sie einen Kentauren sah.
Das Geräusch klappernder Hufen ließ sie aufblicken. Kehvu trat ein. Er trug keine Rüstung mehr; sein Oberkörper war nackt, nur ein weit ausgreifender Umhang wurde vor seinen Schultern mit einer Fibel zusammengehalten und bedeckte einen Teil seiner Oberarme und fast seinen ganzen Pferderücken. Es war wohl mehr Dekoration als wärmendes Kleidungsstück. Temi vermied es, den muskulösen Oberkörper länger als einen Augenblick anzusehen. Falls er ihren Blick bemerkt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. „Sie gefallen dir?“, fragte er leise. Temi blinzelte verwirrt. Was meinte er? Ach ja, die Säulen. „Sehr!“, gab sie zurück und fügte bewundernd hinzu. „Sie sind wirklich wunderschön.“
Ein leises Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des blonden Kentauren aus. Doch es verschwand wieder, als er sah, dass ihre Mimik ernst wurde. „Könnt Ihr mir sagen, wo ich bin? Also ich weiß inzwischen“, stotterte sie, „dass euer Land Thalas heißt ... aber um wieder nach Hause zu kommen ... muss ich vielleicht wissen, wo Thalas überhaupt liegt.“
Kehvu sah sie nachdenklich an. Durfte er ihr das sagen? Andererseits konnte es kein großes Geheimnis sein; die Menschen, die hier lebten, wussten es schließlich auch genau.
„Komm“, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er ging nicht in die Richtung, aus der sie gekommen war. Das Tor der Veste musste irgendwo rechts von ihnen liegen. Temi versuchte, die Orientierung zu behalten, als sie neben ihm hereilte – obwohl er langsam ging, musste sie fast laufen. „Du musst mich übrigens nicht mit ‚Ihr‘ anreden“, sagte Kehvu lächelnd. „Ich bin nur ein einfacher Soldat. Ich bin Kehvu“, sagte er und streckte ihr im Gehen die Hand entgegen, mit der Handfläche nach oben. Als er die Hand nicht zurückzog, streckte sie ihren Arm und legte zaghaft ihre Hand auf seine. Er ergriff ihr Handgelenk, drückte es kurz und ließ sie dann wieder los.
„Ich bin Temi.“
Kehvu blickte wieder nach vorne. Der Gang, in dem sie waren, war dunkel, nur von Fackeln beleuchtet, die den ganzen Flur erhitzten. Der Boden war bedeckt mit festgetretener Erde. Hatten die Kentauren einfach Erde aufgeschüttet und Mauern darum gebaut? Der Gang führte steil nach oben. Auf glattem Stein hätten die Kentauren wahrscheinlich Schwierigkeiten gehabt haben, nicht zu rutschen. Die Erde aber war zwar festgedrückt, gab aber genug nach, damit die Pferdebeine sicheren Halt fanden.
Doch, einen Steingrund musste es geben, überlegte Temi. Sie bewegten sich in einer Spirale nach oben, wie auf einer Wendeltreppe. Nur dass es eben eine steile Rampe war.
Drei Mal mussten sie um die Innenachse herumgegangen sein, als Kehvu plötzlich anhielt und sich umdrehte. Der Gang war gerade breit genug, dass Kehvu zwischen den zwei Wänden stehen konnte, ohne sich verrenken zu müssen. Aber vor Kehvu lag gar keine Wand mehr, sondern eine Holztür, die in derselben Farbe und mit demselben Muster bemalt wie die Steine. Sie verschmolz regelrecht mit der Wand.
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