Sie sah hinaus – und sah in der Ferne, die weißen Spitzen eingetaucht in Mondlicht, das Gebirge. Genauergesagt sah sie, egal ob sie sich eher nach links oder nach rechts aus dem Fenster lehnte, nichts als Berge. Der Karte nach musste ein Wald zwischen der Stadt und dem Gebirge liegen. Deshalb hatte sie sie wohl von unterhalb der Stadtmauern nicht bemerkt.
Dann sah Temi direkt nach unten und fuhr unwillkürlich zurück. Sie war nicht schwindelfrei und das war ihr definitiv zu hoch.
Bei dem kurzen Blick hatte sie kleine Fackeln zwischen den Häusern lodern sehen, aber genauer wollte sie sich das nicht angucken – oder konnte es nicht, ohne dass ihr schwindelig werden würde.
Vielleicht hatte sie ja morgen noch Gelegenheit, sich die Stadt genauer anzusehen. Sie hoffte es – wann konnte man schon mal eine Kentaurenstadt besichtigen?
Am nächsten Morgen schreckte Temi hoch und saß senkrecht im Bett. Das hier war nicht ihr Bett, nicht ihr Zimmer. Nicht ihre Welt. Es war kein Traum gewesen. Ihr Herz raste und sie sprang aus dem Bett. Sie hatte gut geschlafen, kein bisschen unruhig. Aber sie hatte keine Ahnung wie lange? Wie spät war es? Draußen war es hell, aber das war kein Anhaltspunkt. Selbst in Deutschland war es im Sommer um 5 Uhr morgens schon hell. Sie wünschte, ihre Uhr ginge, oder dass sie ihr Handy hätte – nicht dass das hier Empfang gehabt hätte. So musste sie eben versuchen, sich an der Natur zu orientieren. Zurück zu den Wurzeln.
Sie stellte sich auf den Stuhl und sah nach draußen. Die Sonne schien ihr mitten ins Gesicht, stand aber noch relativ niedrig, ganz dicht über dem Gebirge. Temi blinzelte und ihre Augen fingen an zu tränen. Das Gebirge erstreckte sich, soweit das Auge reichte. Kein Wunder, dass die Zeichner der Karte dachten, dass dies der Rand der Welt wäre. Die höchsten Gipfel waren schneebedeckt, dazwischen mussten unzählige Täler und Pässe liegen – aber wenn das Eis selbst im Sommer nicht schmolz, war es vielleicht tatsächlich unmöglich, es bis zur anderen Seite zu schaffen. Oder es war tatsächlich der „Rand“ dieser Welt. Glaubten die Kentauren, dass die Erde flach war?
Temi warf einen vorsichtigen Blick nach unten und zog ihren Kopf gleich wieder zurück – das Zimmer lag wirklich sehr hoch oben! Unten in der Stadt waren die Sonnenstrahlen noch nicht angekommen. Der Wald, der zwischen Thaelessa und dem Gebirge lag, wirkte dunkel und bedrohlich, ein harscher Kontrast zu den hellgrünen Wiesen und dem glänzenden Schnee in den Bergen. Die Bäume wuchsen auch auf den Berghängen hinauf, doch ab einer gewissen Höhe waren die Hänge grau und kahl. Es schien, als hätte jemand jenseits dieser Linie alle Bäume gefällt.
Fasziniert betrachtete Temi die Landschaft. Sie konnte nicht einschätzen, wie weit das Gebirge entfernt war, wie groß der dunkle Wald zwischen ihnen und der Stadt war. Die Berge erschienen so massig und endlos. Kehvu hatte gesagt, es waren zwei Tagesritte, aber wie weit konnte ein Kentaur an einem Tag laufen?
„Temi?“
Sie fuhr herum, als sie Kehvus leise Stimme durch die Tür hörte. Sie stieg vom Stuhl und wollte zur Tür rennen, als sie sich erinnerte, dass sie sich vielleicht besser anziehen sollte – ein bisschen mehr als ein T-Shirt und eine Unterhose sollte sie schon tragen. Temi wurde rot. „Ich komme sofort!“, rief sie durch die geschlossene Tür und zog schnell die Kleidung an, die sie in der Nacht im Dunkeln rausgesucht hatte. Der Umhang war in der Tat grün, wenn auch ein bisschen heller, als sie gedacht hatte. Die Hose war weinrot, nicht schwarz oder dunkelbraun. Auch gut!
Als sie an sich herab sah, staunte sie über die Veränderung. So passte sie in diese Welt; sie sah aus, wie sie sich die Menschen in früheren Zeiten vorgestellt hatte. Jetzt war sie eine von ihnen. Zumindest für eine gewisse Zeit. Was war das nur für ein Abenteuer!
Sie ging zur Tür und merkte jetzt erst, wie kalt der Steinboden unter ihren nackten Füßen war. Richtig, sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, sobald sie ihre Wohnung betreten hatte – und sie sich natürlich nicht wieder angezogen, als der Schlangenmensch sie attackiert hatte. Ob es hier in der Stadt auch Schuhe gab? Ein Extra-Paar für den Menschenprinzen, irgendwo in der Veste?
Sie schob den Gedanken beiseite und ging die schmale Treppe hinunter, bis sie Kehvu sah, genau dort, wo er sie gestern zurückgelassen hatte. Als er sie aus den Augenwinkeln sah, drehte er sich zu ihr herum und betrachtete sie von oben bis unten mit großen Augen. „Ich habe fast vergessen, wie menschliche Kleidung aussieht“, sagte er dann erstaunt, vor allem mit Blick auf die Hose. Temi sagte nichts, sondern schmunzelte nur. Natürlich trugen Kentauren keine Hosen – aber sie hatte das Bild prompt vor ihrem geistigen Auge.
„Sie steht dir“, sagte er dann. „Ich war mir nicht sicher, wie lang ihr Menschen schlaft und ob du schon wach bist. Der junge Prinz und die Gesandten sind immer erst sehr spät aus dem Zimmer gekommen.“
„Kommt ganz drauf an“, erwiderte Temi.
„Also nicht anders als bei uns“, sagte Kehvu. „Komm. Es gibt unten etwas zu essen und dann können wir zum Kerker gehen.“
Temis gute Laune schwand bei diesem Wort und ihr schlechtes Gewissen meldete sich prompt. Hätte sie doch darauf bestehen müssen, dass Xanthyos sofort freigelassen wurde? Jetzt hatte er die Nacht im Kerker verbringen müssen, während sie hier oben hervorragend geschlafen und danach in aller Ruhe den Blick über die Landschaft genossen hatte.
Sie schüttelte den Kopf. „Können wir zuerst zu Xanthyos gehen?“, fragte sie. Kehvu blickte sie nachdenklich von der Seite an. „In Ordnung“, sagte er, nicht mehr ganz so gut gelaunt. Es schien ihm nicht zu gefallen, dass sie Xanthyos mochte. Niemandem hier schien es zu gefallen. Machte sie einen Fehler, wenn sie darum bat, ihn freizulassen?
Der Thronsaal war bis auf zwei Wachen leer. Die Sonne schien hier noch nicht herein, dafür stand sie noch lange nicht hoch genug. Kehvu blieb nicht stehen. Sie gingen an den Wachen vorbei, die sich ebenso neugierig zu ihr umdrehten, wie Temi sie im Vorbeigehen musterte. Aber sie sahen zu imposant aus, um mit einem kurzen Blick alles zu erfassen, und Temi blieb stehen, um sich jedes Detail im Gedächtnis einzubrennen. Die Wachen hatten lange Lanzen in der Hand, ähnlich wie die Krieger, die gestern im Torbogen gestanden hatten. Aber das war nicht das beeindruckendste: Sie waren von Kopf bis Huf gepanzert. Ihre Helme hatten eine ähnliche Form wie phrygische Helme – doch daran angebracht waren aufwendig ziselierte, bronzene Flügelformen. Sie waren zur Seite gerichtet und nach vorne gekrümmt. Das war sicher nichts für die Schlacht, aber eindrucksvoller hätte der Anblick kaum sein können. Von den Schultern abwärts waren die Arme ebenfalls in bronzene Rüstung in Flügelform eingehüllt, je einen für die Oberarme und einen für die Unterarme. Die Körperrüstung bestand aus zwei Teilen: einem Brustpanzer, der den Brustkorb schützte und dann abrupt in etwa pflaumengroße Schuppen überging. Die Schuppenrüstung lief vor dem Rumpf auf Höhe der Beine spitz zu, hinten bedeckte sie dagegen den ganzen Pferdekörper bis zum Bauch. Alle vier Beine waren von geschwungenen Beinschützern bedeckt.
„Temi?“
Kehvus Stimme riss sie aus ihrer Verblüffung. Sie hatte die beiden Wächter, ein Mann und eine Frau unverhohlen angestarrt, und die beiden starrten zurück. „Entschuldigung ... Entschuldigung!“ stammelte sie hastig und lief zu Kehvu, der bereits einige Schritte weiter im Gang stand.
Er setzte sich wieder in Bewegung, aber sie sah wohl, dass er immer wieder den Kopf zu ihr drehte. Irgendwann sprach er die Frage laut aus, die ihm auf der Zunge brannte: „Was fandest du denn gerade so spannend?“
„Die Rüstung“, platzte es aus ihr heraus. „Einfach nur wunderschön! Ich wünschte, ich hätte ein Foto machen können!“ Sie vergaß vor Aufregung, dass Kehvu kaum wissen konnte, was ein Foto war, aber ihn erstaunte etwas ganz anderes so sehr, dass er nicht danach fragte: „Du interessierst dich für Rüstungen?“
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