Bevor Temi darüber nachdenken konnte, was hinter einer so geheimnisvoll versteckten Tür liegen mochte, öffnete Kehvu sie. Das erste, was Temi sah, waren Fenster. Es überraschte sie; eine Veste sollte doch uneinnehmbar sein. Kentauren mochten hier nicht hochklettern können, Menschen allerdings schon.
Kehvu machte eine einladende Handbewegung und ohne zu zögern ging Temi hinein. Ihr Herz schlug schneller. Er konnte jetzt einfach die Tür zumachen und sie wäre hier gefangen. Sie trat ans Fenster. Es war definitiv zu hoch, um herunterzuspringen. Aber ihre vage Befürchtung blieb unbegründet.
Es war draußen mittlerweile fast dunkel und das Zimmer nicht viel heller als der Gang. Kehvu hatte eine Fackel von der Wand draußen genommen und kam nun damit herein. Er ging zu einem Becken, hielt die Fackel daran und einen Herzschlag später schossen Flammen fast einen Meter in die Höhe. Kehvu zuckte nicht einmal, während Temi zusammenfuhr. Dasselbe wiederholte er auf der anderen Seite. Nun war der Raum in ein rot glühendes Licht getaucht.
Temi sah sich um. Zwei Fensteröffnungen gab es, beide etwa zwei mal zwei Meter groß. Es stand eine massige Holzkiste an der Wand auf der anderen Seite des Zimmers und daneben ein runder Tisch, auf dem sich mehrere Figuren befanden. Es erinnerte sie an ein Schachspiel, nur mit deutlich weniger Figuren.
An der langen Wand, die den Fenstern gegenüberlag, befand sich ein riesiges Gemälde. Es begann direkt hinter der Tür und bedeckte die gesamte Wand.
Jetzt verstand Temi, wieso Kehvu sie hierhergebracht hatte: Es war eine Karte. Etwa eine Elle von den Rändern entfernt, zierten breite blaue Ranken das ansonsten beige- oder ockerfarbene Bild – im Fackellicht war es nicht ganz zu erkennen. Zwischen den Ranken und dem Rand waren kleine Figuren zu sehen: Kentauren, in verschiedenen Schlachtformationen. Menschen, die auf einem Hügel vor einer Stadt standen und den Kentauren entgegenstürmten. Hatte Kehvu deshalb gezögert, ihr das Bild zu zeigen?
Kehvu zeigte jetzt mit einer Hand auf eine Stelle auf der Karte. Auf eine befestigte Stadt mit hellen Mauern, braunen Häusern im Inneren und einer weißen Veste. Temi musste nicht nachfragen, um zu erkennen, dass das Thaelessa war. Die Stadt lag in der unteren Hälfte des Gemäldes, umgeben von mehreren Waldflächen; nur nach Norden hin schloss sich eine baumlose Ebene an. Hinter dem Wald links folgte ein Gebirge. Entweder war es so hoch, dass es gut und gerne an den Himalaya heranreichen musste, oder die Maßstäbe waren nicht so groß, wie Temi gehofft hatte. Es konnte natürlich auch sein, dass die Berge in Wahrheit flacher waren, dass sie nur für den Effekt auf dem Gemälde so hoch aussahen, so wie die Stadt wohl gegenüber den Wäldern auch größer gemalt war, damit sie auf der Karte nicht unterging.
Xanthyos und sie mussten aus dem Süden oder Osten an Thaelessa herangeritten sein. Sie konnte sich nicht daran erinnern, in der Ferne ein Gebirge gesehen zu haben, als sie sich der Stadt genähert hatten – aber das wollte nichts heißen. Sie hatte wahrlich auf anderes geachtet als auf den Horizont.
Etwa zwei Armlängen über der Stadtzeichnung war ein Strich, der – leicht kurvig – von Ost nach West reichte, bis er vor einer von Gebirgsgipfeln umgebenen Ebene abrupt aufhörte. Ein Fluss? Es gab noch mehr schlängelnde Linien, aber keine so dick wie diese. Vielleicht die Grenze des Landes? Um die Farben zu erkennen, reichte das Licht nicht aus.
„Das ist Thalas“, sagte Kehvu und fuhr mit der Hand über die untere Hälfte der Karte, bis zu dem dickeren Strich heran. Also war es wohl wirklich eine Grenze. „Hier beginnt Hešara, das Land der Menschen. Es gibt verschiedene Menschenstämme, aber nur eines ihrer Reiche grenzt an Thalas. Das der Heqassa. Dort liegt ihre Hauptstadt, Šadurru. Drei Tagesläufe von Thaelessa entfernt.“
Es war noch eine andere befestigte Stadt auf der Karte zu sehen, und darauf wies Kehvu jetzt. Drei Tagesritte! Das war weniger, als Temi gedacht hätte. Das bedeutete, das Gebirge im Westen war nicht weit entfernt, und die Karte endete zwei Tagesritte weiter im Süden. Weiter im Osten gab es ein größeres Gewässer, ob ein See oder ein Meer konnte man nicht erkennen: Die Karte endete dort mit Ranken am Rand.
„Hilft dir das weiter?“, fragte Kehvu. Temi unterdrückte ein Seufzen. Nicht wirklich. „Wer wohnt denn dann weiter im Süden?“
„Niemand“, antwortete Kehvu sofort. „Einige aus unserem Volk haben sich ein paar Tagesritte südlich von Thaelessa niedergelassen, aber niemand wohnt weiter weg als in 10 Tagesritten zu erreichen. Dahinter ... gehört das Land niemandem. Wir könnten es wohl beanspruchen, aber wofür? So viele sind wir nicht. Wir schicken regelmäßig Späher gen Süden, um zu erkunden, ob das Land immer noch unbewohnt ist. 50 Tage sind sie in verschiedene südliche Regionen gelaufen und sind niemandem begegnet.“
Deshalb lohnte es wohl auch nicht, eine weitere Karte anzufertigen.
„Und die anderen Himmelsrichtungen?“, fragte Temi. Sie versuchte, nicht ernüchtert oder frustriert, sondern neugierig zu klingen. „Das Gebirge im Westen und das Meer im Osten sind unüberwindbar. Und im Norden ... ja, da leben einige andere Menschenstämme. Weshalb ...“, begann er, schüttelte dann aber den Kopf. „Schon gut. Natürlich willst du wissen, welche Stämme deines Volkes hier leben. Vielleicht ist ja sogar deiner dabei.“ Das bezweifelte sie, aber sie sagte nichts.
Kehvu ging zu der Kiste, öffnete sie und holte eine dünne Lederrolle heraus. Mit geübten Händen entrollte er sie. Es war ein Pergament, auf dem etwas geschrieben stand. Mit dem Kopf bedeutete Kehvu ihr, näherzukommen. Er legte das Pergament auf die Kiste. Das Fackellicht war hier nicht mehr stark genug, daher entzündete er noch eine dritte Feuerstelle, in der Ecke direkt neben der Kiste. Auf dem Pergament war ebenfalls eine Karte zu sehen. Temi erkannte sofort das Gebirge und das Meer an den Rändern wieder. Der Zeichner der Karte hatte die Bergspitzen im Westen einfach unendlich weitergezeichnet. Ob das auch so war, würde sie wohl nicht herausfinden. Was konnte das für ein Gebirge sein? Das Zagros-Gebirge? Der Kaukasus?
„Wie heißt das Gebirge?“, fragte sie.
„Enessu.“
Na das ist hilfreich , dachte Temi bitter. Das klang nicht mal annähernd nach einem der beiden Gebirge in der (näheren und weiteren) Umgebung Griechenlands.
Sie sah sich die Karte genauer an. Die beiden Städte fand sie dann auch schnell wieder; diesmal ging die Landschaft aber gen Norden weiter. Dort waren den Grenzstrichen nach zu urteilen fünf, nein sechs weitere Länder eingezeichnet. Zwei davon grenzten an Hešara, allerdings getrennt durch ein Gebirge. Alles in allem lagen die beiden Reiche Hešara und Thalas recht isoliert.
Diese Karte war, im Gegensatz zu der großen an der Wand, mit Schrift versehen – die sie aber nicht lesen konnte. „Wie heißen diese Länder?“, fragte sie Kehvu und war mehr als dankbar für seine Geduld.
„Das ist Šur, das Land der Suraju“, sagte er und wies auf das Land im Nordosten Hešaras. „Und daneben Paras, das Reich der Paršava.“
Temi kniff die Augen zusammen. Diese Namen klangen vertraut. Mehr als das. Es waren leichte Abwandlungen von Völkernamen aus ihrer Welt. Aus der Vergangenheit ihrer Welt. Paras war der aramäische Name Persiens, Paršava war dem Wort Parθava, dem altpersischen Wort für die Parther, ähnlich, ein antikes Volk im heutigen Iran.
Und wenn sie sich in dieser Region der Erde befanden, dann fehlte vor dem anderen Länder- und Volksnamen nur ein „Aš-“, und schon hatte man die Assyrer bzw. ihre Stadt Aššur. Wenn das eine zufällige Ähnlichkeit war, dann wollte sie nichts mehr mit Antike zu tun haben.
Natürlich war es das nicht. Die Frage war: Befand sie sich in der Vergangenheit oder – was die wilde Mischung der Namensvariation (und vielleicht auch die Existenz der Kentauren) nahelegte – in einer seltsamen parallelen Welt?
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