„Hier, in Kaarun wohnt ein Volk, das sich Kharaala nennt. Das Land daneben ist Masoor, dann Kumen, Palkhonna und das ganz schmale Land im Norden ist Thuile.“ Temi hatte bei den weiteren Namen schon die Schultern hängen lassen – kein einziger davon klang auch nur ein bisschen vertraut. Erst den letzten konnte sie wieder einordnen. Auch wenn das kein bisschen half, denn die „Insel Thule“ war eine Insel, die der griechische Entdecker Pytheas beschrieben hatte – nur leider existierte sie nicht. Es war ein mythischer Ort, kein realer. Und sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie es wirklich mit Persern und Assyrern zu tun haben würde – wenn sie denen überhaupt begegnete. Das war wohl, wenn sie Kehvu richtig verstand, eher unwahrscheinlich.
Sie suchte die Karte ab nach irgendeinem Hinweis. War das alles? Im Norden von Thuile schloss sich erneut ein Gebirge an und damit endete auch diese Karte und für die Kentauren offenbar ihre Welt.
„Danke“, sagte sie schließlich, als das Schweigen schon allzu lang dauerte. Jetzt konnte sie nicht mehr verhindern, dass sie unglücklich klang. Was bedeutete das für ihren Rückweg? Vielleicht, dass du aufhören musst, nach einer logischen Lösung zu suchen! , schalt sie sich selbst. Du bist beim Berühren eines Buches hierhergefallen, Himmeldonnerwetter noch mal! Hatte sie da erwartet, zu Fuß nach Trier zurückkehren zu können?
„Du wirst sicher einen Weg finden“, sagte Kehvu, als hätte er ihre Gedanken gelesen – aber dieses Mal war es wohl nicht allzu schwer. Sie zwang sich zu einem Lächeln. Kehvu konnte nichts dafür und er hatte recht. Sie war ja gerade erst angekommen. Es würde einen Weg geben, sie musste ihn nur finden. Wenn sie aus einem Grund hierhergekommen war, dann musste sie diesen Grund – ihre Aufgabe oder was immer – vielleicht einfach nur erfüllen und dann gelangte sie zurück nach Hause.
Das brachte sie zu dem Problem zurück. Sie nickte leicht, mehr um sich selbst zu sortieren, als um Kehvu zu antworten. Aber der sah es als Zeichen, dass er ein anderes Thema ansprechen konnte: „Fürst Aireion bittet dich um eine Entscheidung. Soll Xanthyos sein Gefangener bleiben oder frei sein.“ Stumm starrte Temi Kehvu an. Der Fürst überließ tatsächlich ihr die Entscheidung? Warum? Hatte es mit der Prophezeiung zu tun? Wie sollte sich entscheiden? Sie musste Zeit gewinnen.
„Darf ich noch mal mit Xanthyos sprechen, bevor ich mich entscheide?“
„Du hast Zeit. Es ist spät und du musst müde sein.“
Wie auf Befehl gähnte sie. Sie hatte es in den letzten Minuten verdrängt, aber der Adrenalinschub, der sie durch diesen unglaublichen Tag gebracht hatte, ließ nun deutlich nach. Draußen war es stockdunkel. Durch die Flammen im Zimmer konnte sie nicht einmal erkennen, ob der Mond schien oder viele Meter unter ihnen in der Stadt Fackeln die Straßen erleuchteten oder nicht. Es war einfach pechschwarz. Sie gähnte noch einmal. „Jetzt, wo du es sagst?!“, scherzte sie dann und Kehvu schmunzelte.
„Ich bringe dich auf dein Zimmer.“
Hatten sie hier Betten? Kentauren legten sich ja wohl nicht wie Menschen hin.
Kehvu legte seine Hand in ihren Rücken, um sie in die richtige Richtung zu lenken, zog sie dann aber so rasch wieder zurück, als hätte er etwas Unrechtes getan. Temi lächelte ihn aufmunternd an. Es hatte sie nicht gestört.
Kehvu errötete und drehte sich schnell um. Dabei verrutschte der Umhang von seinen Schultern, sodass er jetzt fast ganz auf seiner rechten Seite herunterhing. Temi betrachtete verstohlen den Übergang zwischen Mensch und Pferd, als sie hinter ihm herging. Dass die Natur so etwas hervorgebracht hatte! Stoppeliges Pferdehaar wurde zu sichtlich weicherem Flaum und dann zu menschlicher Haut, ohne übermäßige Behaarung.
Jetzt war sie es, die rot wurde, aber er sah es glücklicherweise nicht. Für den Rest des Weges – es ging weiter die Rampe aufwärts – betrachtete sie den Boden und achtete darauf, dass sie nicht in Kehvu hineinlief. Dennoch passierte genau das beinah, als er plötzlich anhielt.
Sie standen vor einer Treppe mit einigen steilen Stufen, zu schmal als dass ein Kentaur leicht hinaufkäme.
„Verzeih, wenn es dort oben staubig ist. Wir betreten das Zimmer nur selten und ungern.“ Wie auch. Zumindest konnte es nicht einfach sein.
„In diesem Zimmer haben die Botschafter der Menschen genächtigt, als wir uns noch gegenseitig Botschafter gesandt haben, und dann der junge Prinz, Imalkuš. Du wirst Kleidung darin finden, die dir vielleicht passt. Sie wäre für den jungen Prinzen gewesen, wenn er länger in der Stadt geblieben wäre.“
Temi nickte. Sie war aufgeregt. Wie wohl die Kleidung eines menschlichen Prinzen hier im Land aussah? Die Kleidung des Kentaurenkönigs war nicht besonders prunkvoll, daher konnte sie wohl nichts allzu Wertvolles erwarten. Aber außergewöhnlich war es für sie allemal!
„Ich hoffe, du kannst dich ein wenig erholen. Es wird gleich noch jemand kommen und dir Essen an die Treppe bringen. Falls du noch etwas brauchst ...“ Kehvu schien einen Moment überlegen zu müssen, was dann war. „Dann musst du leider bis ganz runter gehen. Die Wachen der Veste sind zwar informiert, dass ein Außenwelter in der Stadt ist, aber ich weiß nicht, wie sie reagieren, wenn du in ihre Privatgemächer tappst.“
Temi prustete los und Kehvu lachte leise. „Am Thronsaal sind aber immer Wachen. Und dort unten kannst du dich auch erfrischen. Ich fürchte, heute Nacht nur mit kaltem Wasser.“ Temi nickte und ihre Wangen wurden erneut rot. Hauptsache, dort gab es dann auch soetwas wie eine Toilette, auch wenn Kehvu es nicht extra erwähnte.
„Danke. Schlaf gut!“, sagte sie dann.
Er nickte ihr zu. „Du auch!“
Damit reichte er ihr die Fackel, die er in der Hand hatte, und nahm selbst eine andere von der Wand.
Rasch stieg sie die Treppe hinauf. Die schwere Tür dort ließ sich nicht leicht öffnen. Erst als sie ihr ganzes Körpergewicht dagegendrückte, ging sie knarrend auf. Wie in dem Raum mit der Karte gab es vier hohe Behälter, mit Öl vermutlich. Mit weit ausgestrecktem Arm hielt sie die Fackel an die Schale und Flammen schossen in die Höhe. Zweimal wiederholte sie das und dann war das Zimmer in flackerndes Licht getaucht. Auf dem Boden neben Feuerschalen lagen deckelähnliche Gegenstände, jeweils mit einem einen halben Meter langen Stab, damit man zum Löschen des Feuers nicht zu nah herangehen musste.
Temi steckte die Fackel in eine Halterung an der Wand und sah sich um. Natürlich gab es ein Bett im Zimmer der Botschafter! Auch einen offenen Schrank und an der Wand mehrere einzelne Regalbretter, die aber allesamt leer waren. Die Möbel waren eingestaubt, aber wenigstens sah sie keine Spinnen im Zimmer. Im Schrank hingen Kleider. Neugierig begann Temi, die Kleidung zu inspizieren. Bis auf ein bisschen Staub waren sie sauber und rochen frisch. Es waren mehrere Sets aus Hosen, Hemd und Umhang. Sie entschied sich für einen Umhang, der im roten Licht grün aussah, ein Velourlederhemd und eine dünne und bequeme Hose und legte alles auf das unterste, am wenigsten eingestaubte Regalbrett.
Sie sah sich im Zimmer um und musste schmunzeln. Das Fenster war zu hoch, um einen Blick nach draußen zu werfen. Ein Konstruktionsfehler wohl: Es war nicht für menschliche Botschafter ausgelegt, sondern für die größeren Kentauren. Und sie mit ihren 1,66 Meter war erst recht zu klein. Temi rückte einen Stuhl an die Wand und kletterte dann hinauf.
In der Zimmermitte hatte sie keine Geräusche gehört – das war ungewohnt! In Trier lag ihre Wohnung zwar auch nach hinten raus, sodass es nachts immer leise war, aber so gar nichts zu hören, war seltsam. Direkt am Fenster hörte sie ein Tier schreien, vielleicht einen Fuchs oder Schakal. Aber keine menschlichen bzw. Kentaurenstimmen.
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