Ich drehte den Kopf zur Seite, um zu sehen, was sie tat.
Silvia saß mit geschlossenen Augen, den Rücken an die Hauswand gelehnt neben mir und schien zu schlafen. Eine leichte Brise spielte mit ihren Haaren und ließ die dunklen Locken wie einen dünnen Schleier vor ihr Gesicht wehen. Bei all den Merkwürdigkeiten, welche ich in den letzten Stunden mit ihr erlebt hatte, wirkte sie aber keineswegs beunruhigend, sondern seltsam vertraut. Je länger ich sie anschaute, desto stärker wurde das Gefühl, sie schon länger zu kennen. Waren wirklich erst ein paar Stunden vergangen seit unserer Begegnung? War ich nicht drauf und dran, vollkommen den Verstand zu verlieren, indem ich eine völlig irreale Zeitreise als Realität zu begreifen begann? Ich glaube, meine arg strapazierten grauen Zellen waren wirklich nahe dabei, an sich selbst zu verzweifeln, als ich plötzlich Silvias tastenden Finger fühlte, die nach meiner Hand suchten, sie zärtlich streichelten und dann fest umschlossen.
Ein tiefes Seufzen von Reinald ließ mich zu dem Mönch schauen. Er saß mit über dem Bauch gefalteten Händen neben Silvia und starrte leeren Blicks vor sich hin. Die Erinnerung, die er durch seinen Bericht wachgerufen hatte, schien ihn zu beschäftigen. Oder war es vielmehr
die Begegnung mit den Abgesandten des Bischofs, die ihn beunruhigte?
„Sagt mal, Reinald, wovon haben die Leute dieses Dorfes eigentlich gelebt? Felder scheint es hier nur wenige gegeben zu haben“, unterbrach ich das Schweigen.
„Was möchtet Ihr wissen, Roger? – Entschuldigt, ich war in Gedanken.“
Ich wiederholte meine Frage.
„Nun, die Bewohner dieses Hofes waren zumeist Köhler“, erklärte der Mönch. „Vor einigen Jahren wurde der Ort aufgegeben. Die Bewohner zogen in die Stadt und in deren Norden, wo heute die Kohle hergestellt wird. Hier weiden jetzt nur noch Schafe.“
Reinald erhob sich.
„Ich hole mal einen Krug Bier. Ihr habt doch sicher auch Durst“, sagte er, bevor er im Haus verschwand.
Silvia, die immer noch meine Hand hielt, begann sich zu räkeln.
„Eine sehr gute Idee von dem frommen Mann“, bemerkte sie mit geschlossenen Augen.
„Schon interessant, dass du wach wirst, wenn nur das Wort Bier fällt“, lästerte ich.
Meine hübsche Begleiterin öffnete die Lider, blinzelte und sah mich strafend an.
„Ihr führt eine scharfe Zunge, Junker. Ihr dürft Euer Weib getrost etwas freundlicher behandeln.“
In diesem Moment erschien Reinald mit dem versprochenen Bier. Er schenkte uns ein, setzte sich und verfiel wieder in Schweigen.
„Was macht Euch so trübsinnig, Reinald? Sind es die Erinnerungen oder die Gesandten des Bischofs?“ fragte Silvia.
„Beides. - Hauptsächlich jedoch die Gesandtschaft.“ entgegnete Reinald bedächtig. „Ich fürchte, mit meiner Ruhe ist es bald vorbei. Ich habe das ungute Gefühl, dass die Jagd auf mich eröffnet ist. Balduin hat ja bereits einen Zeugen beseitigen lassen. Ich nehme an, dass ich der nächste sein werde.“
„Wenn das wirklich so sein sollte, werden wir Euch helfen, nicht wahr, Roger?“
Silvia drückte auffordernd meine Hand und ich nickte zustimmend.
„Könntet Ihr nicht nach Corvey zurückkehren, Reinald?“ wollte ich
wissen. „Euer Abt wird Euch doch wohl glauben, dass Ihr nicht gewusst habt, dass Corvey um sein Lehen gebracht werden sollte, als Ihr für Balduin die Urkunden angefertigt habt.“
Der Mönch verzog das Gesicht zu einem ironischen Lächeln.
„Ihr meint, ich solle als reuiger Sünder nach Corvey zurückkehren, meinen Abt um Vergebung bitten und – so er sie mir gewährt – meine Tätigkeit als Schreiber fortsetzen, als sei nichts gewesen? Nein, ich glaube, das wird nicht möglich sein, denn die friedliche Ruhe eines Klosters gibt es für mich nicht mehr. Meines Lebens sicher werde ich selbst in Corveys Mauern nicht leben können. Der Arm des Bischofs reicht weit und selbst Päpste sollen schon unter recht mysteriösen Umständen gestorben sein. Was kümmert da ein kleiner Mönch? – Nein, mir reicht das Ränkespiel innerhalb der Kirche. Der Grund, warum ich einst ins Kloster ging ...“
Er machte eine Pause.
„Nun, das tut nichts zur Sache. Was ich aufrichtig bedaure, ist, dass ich meine Klause aufgeben muss.“
„Und wohin wollt Ihr gehen?“
In Silvias Stimme schwang Mitleid.
Zur Antwort zuckte Reinald hilflos mit den Achseln.
Der Mann tat mir Leid. Die Dinge, die er im Auftrage der Kirche getan hatte, waren sicher nicht legal gewesen, aber er hatte zumindest im guten Glauben gehandelt. Ich konnte lebhaft nachempfinden, wie er sich fühlte. Im Bewusstsein, richtig zu handeln, feststellen zu müssen, dass man lediglich übelst ausgenutzt wurde... Eine verdammt herbe Erkenntnis.
Der Mönch erhob sich so schwerfällig, als ruhe die ganze Last der Welt auf seinen Schultern.
„Ich bereite jetzt unsere Vesper. Beim Kochen kommen mir manchmal ganz gute Einfälle.“
Als er im Haus verschwunden war, fragte ich Silvia:
„Sieht es für den armen Kerl wirklich so schlimm aus, wie er es darstellt?“
„Ich weiß es nicht, aber für wahrscheinlich halte ich es schon.“
„Und wie gedenkst du ihm zu helfen? Willst du ihm das einundzwanzigste Jahrhundert versetzen? Wäre doch eine Möglichkeit. Da fehlt ja jetzt sowieso einer.“
„Das kann ich nicht machen.“ feixte Silvia. „ Der arme Hund müsste ja glauben, er sei von lauter Teufelswerk umgeben, und würde den Kulturschock wohl nicht überleben.“
„Na gut, dann werde ich jetzt meinen Bogen ausprobieren, statt ihn immer nur durch die Gegend zu schleppen. Wenn wir Reinald helfen wollen, brauche ich das Ding ja vielleicht. Dann sollte ich wenigstens halbwegs so damit umgehen können, wie man das von einem Bogenmeister erwarten darf.“
„Oh ja, und ich bin dein erster Lehrling. Dann kannst du auch gleich deine Fähigkeiten als Lehrer unter Beweis stellen.“
Ihre Begeisterung reizte mich zum Lachen.
„Alles auf einmal? Ist das nicht ein wenig viel verlangt?“
Statt mir zu antworten, lächelte sie, ergriff den Köcher und stand auf.
„Komm!“ sagte sie. „Zeig was du kannst.“
Ich nahm den Bogen und ging zum Anbau der Kate, wo ich ein altes Brett gesehen hatte. Es war etwas morsch, aber damit die ideale Zielscheibe. Da ich schon einmal mit einem Bogen geschossen hatte, wusste ich, wie mühselig es war, Jagdspitzen aus festem Holz auszugraben.
Silvia war bereits ein Stück in die Heide hinausgegangen und sah sich nach mir um.
„Wo bleibst du denn? Wir können doch die Linde als Ziel nehmen.“
Auf sie zugehend schwenkte ich das Brett.
„Können wir nicht. Wir nehmen das hier. Ist besser so.“
Ich erklärte ihr das Warum und Weshalb.
„Siehst du, das war schon mal ein Anfang als Lehrer.“ Ihre dunklen Augen blitzten. „Ich baue das Ziel am Baum auf.“
Sie lief zu der etwa dreißig Meter entfernten Linde, lehnte das Brett schräg gegen den Stamm, schaute sich zu mir um und rief:
„Gut so?“
Ich nickte zustimmend und spannte den Bogen, was sich als gar nicht einfach erwies. Das Ding musste ein ganz hübsches Zuggewicht haben. Es war wohl gut gewesen, früher schon einmal den Umgang mit Pfeil und Bogen geübt zu haben. Mein alter Recurve-Bogen war allerdings wesentlich leichter und kleiner gewesen als dieses fast zwei Meter lange Monstrum.
Silvia kam zurückgelaufen und stellte sich neben mich.
„Klappt‘s?“ fragte sie.
„Das werden wir gleich sehen.“
Ich legte einen Pfeil auf die Sehne, zog sie aus – und ließ sie, ohne den Pfeil abzuschießen, langsam in die Ausgangsposition zurück-gleiten.
„Klappt nicht?“ Silvia sah mich mit ihren großen, dunklen Augen fragend an.
„Im Prinzip schon. Mir ist nur eingefallen, dass ich vorher einen Armschutz anlegen sollte. Wenn mir die Sehne gegen das Handgelenk schlägt, bleibt‘s bei einem Schuss. – Hast du vielleicht das Ding bei meiner Ausrüstung vergessen?“
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