1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 »Oh, Violett!«, rief sie ihr mit einer für sie ungewöhnlich schrillen Stimme entgegen, »ich habe es noch gestern von meiner Nachbarin erfahren. Sie sagte mir, dass Sie Ihre Mutter auf tragische Weise verloren haben.«
Violett hätte es gefreut, wenn sie wenigstens bei ihrer Beileidsbekundung den Vor- oder Nachnamen ihrer Mutter erwähnt hätte. So empfand sie es doch als sehr unpersönlich.
»Ach, Violett, es ist wirklich schrecklich. Sie hatte doch noch so viele Jahre vor sich. Aber Kopf hoch, mein Kind! Ihre Mutter wird vor Gottes Angesicht sicherlich den Frieden gefunden haben, den sie sich gewünscht …« Mrs. Bridges verstummte schuldbewusst.
Violett stand der Mund offen. Wollte Mrs. Bridges etwa gerade andeuten, ihre Mutter hätte sich den Tod herbeigesehnt? Ihre Mutter hatte schließlich nicht an einer schlimmen und kräftezehrenden Krankheit gelitten, die ihr das Leben unerträglich gemacht hätte.
Mrs. Bridges wurde sich ihrer Worte bewusst, als sie Violetts entgeistertes Gesicht sah. »Ach, entschuldigen Sie. Ich bin nur so überwältigt davon, dass sie von uns gegangen ist. Ich dachte nur, dass Ihre Mutter vielleicht an einer schlimmen Herzerkrankung gelitten hätte, die ihr …«
»In gewisser Weise haben Sie recht, Mrs. Bridges«, meinte Violett mit zusammengepressten Zähnen. Dann entfernte sie sich grußlos.
Nun fühlte sie sich wieder um einiges schlechter. Zum Glück traf sie wenig später eine Kundin ihrer Mutter, die sich an den Ehrenkodex einer Mitleidsbekundung hielt. Violett war daraufhin zwar wieder etwas wohler, wenngleich sie sich wünschte, auf dem Weg zur Kirche keiner weiteren Menschenseele zu begegnen, damit sie ihre Gedanken besser sortieren konnte. Sie dachte erneut an den Totenschein, der nicht ausgestellt werden konnte. Ob die Nachforschungen erfolgreich gewesen waren? Laura musste schließlich irgendwo im Land geboren worden sein. Immerhin wurde bei jeder Geburt eine Eintragung in ein Register vorgenommen und ein entsprechendes Dokument erstellt, das Lauras Existenz nicht verschweigen konnte.
Sie erreichte nach zehn Minuten Fußmarsch den leicht erhöht liegenden kleinen Friedhof, in dessen Mitte die Dorfkirche stand. Sie blickte kurz hinauf zur Turmspitze, die wie immer stolz in den Himmel ragte. Mit einem klammen Gefühl betrat sie den gepflasterten Weg zur Kirche, wobei sie glaubte, den Boden unter ihren Füßen nicht mehr zu spüren. Automatisch lenkte sie ihr Körper in das Innere der Kirche. Sie betrat sie zum ersten Mal. Sie war weder religiös erzogen worden noch hatte sie bisher der Hochzeit oder Beerdigung eines Freundes oder Bekannten beigewohnt. Doch als sie das Gotteshaus betrat und ihre Füße sie bis vor zum Altar trugen, gab es in ihr doch einen inneren Widerhall. Den Pfarrer konnte sie zunächst nicht entdecken. War er etwa schon zu seiner Mittagspause aufgebrochen? Doch als sie sich gerade etwas genauer umsehen wollte, hörte sie seine Stimme, die von einem erhöhten Punkt zu ihr herabkam. Sie drehte sich um und sah Mr. O’Connell auf der Kanzel stehen, wo er gerade mit einem alt aussehenden Tuch Staub und Fingerspuren seiner Bibellesungen wegwischte.
»Hallo Ms. Maycen. Ich komme sofort zu Ihnen. Sie müssen entschuldigen. Aber auch der Herr verlangt etwas Ordnung und wünscht sich, dass sein Haus in Schuss bleibt. Sie verstehen?« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, soweit Violett es aus der Entfernung beurteilen konnte.
Er stieg eilig die Treppe zu ihr herunter. Im Gegensatz zu gestern lächelte er die junge Frau freundlich an, was Violett freute und ihr guttat. Denn ihr war es lieber, auf diese Weise getröstet und aufgebaut zu werden. Als er schließlich vor ihr stand, merkte er, dass sich Violett fast ein bisschen scheu in der Kirche umsah.
»Keine Angst«, scherzte er, »das Haus bricht nicht über Ihnen zusammen, nur weil Sie es zum ersten Mal betreten.« Ermunternd sah er ihr in die Augen.
Violett wollte sich eigentlich nicht lange in dem Inventar seiner Wirkungsstätte verlieren, doch sie war sprachlos, als sie die wunderschöne goldene Orgel entdeckte, die sich rechts vom Kirchenschiff befand.
»Wir haben es schön hier, nicht wahr?«, meinte er instinktiv und hatte damit Violetts Gedanken erraten.
»Ich wusste gar nicht, dass es hier so schön ist. Auch das Kirchenfenster ist eindrucksvoll«, entgegnete Violett leicht hypnotisiert.
»In ihm spiegeln sich meiner Ansicht nach die Farben des Lebens wider. Es sind nicht wenige, die sich von ihnen getröstet fühlen«, fuhr der Pfarrer fort, der sich offenbar über Violetts Interesse freute.
Dann hielt Violett inne. Im Grunde wollte sie nicht länger Zeit verlieren. Es gab zu viele Fragen, die auf eine Antwort drängten.
»Mr. O’Connell, Sie haben angeboten, mich in meiner Trauerarbeit zu unterstützen. Ich muss aber erst einmal so einiges selbst verstehen, um damit beginnen zu können. Es ist nämlich so …« Violett stockte.
»Ich glaube, ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich bin meinerseits recht verwundert über eine Begebenheit, von der ich Ihnen berichten muss. Mein Kind, gehen wir doch lieber hinüber in mein Pfarrhaus. Dort ist es gemütlicher, sodass Ihnen das Reden sicherlich leichter fallen wird. Ich halte es auch für den geeigneteren Ort. Folgen Sie mir. Sie wissen sicher, dass es sozusagen hier vor der Tür liegt. Man muss nur eine kleine Weggabelung nach links nehmen, und schon ist man da.«
Gemeinsam verließen sie die Kirche. Violett war froh, in der sicherlich sehr entspannten Atmosphäre des Pfarrhauses in Ruhe über alles sprechen zu können. Sie traten auf den Vorplatz mit dem Friedhof, dessen niedrige Mauern von Heckenrosen umrahmt wurden. Violett fand, dass sie sinnbildlich für das Leben standen, die Blüte für das Schöne im Leben und die Dornen für das Schmerzhafte. Als sie den Gehsteig erreichten, lief der Pfarrer mit einem freudigen Lächeln voraus. Sie fand es auf gewisse Weise belustigend, dass Mr. O’Connell den Fremdenführer spielte, obgleich man ja nur die nächste Biegung links nehmen musste, um auf sein Heiligstes, das kleine Pfarrhäuschen, zu treffen. Es wirkte sehr romantisch, denn es hatte einen freundlichen gelben Anstrich, und an seinen Wänden kroch wilder Wein empor. Das Dach des Häuschens war mit karminroten Ziegeln gedeckt, die aber schon von einer dicken Moosschicht bedeckt waren, da es sich an einige stolze Tannen schmiegte, die ihre Zapfen in Mr. O’Connells Garten so verteilt hatten, dass er an einen Streuselkuchen erinnerte. Auf dem wenige Hektar großen Land schien die Zeit ein bisschen stillzustehen, zumal auch das Gras in dicken Büscheln frech aus der Erde lugte, denen Mr. O’Connell augenscheinlich schon lange nicht mehr mit einem Rasenmäher zu Leibe gerückt war. Man erzählte sich im Dorf, dass der Pfarrer ein richtiger Romantiker sei und mit moderner Technik auf Kriegsfuß stehe. Dementsprechend befand Violett, dass Mr. O’Connell einen Garten besaß, der gut zu ihm passte.
Ihr Blick fiel auf den schönsten Baum seines Anwesens, einen großen Ahornbaum, der Mr. O’Connell – darauf ließ eine kleine behagliche Bank schließen – in den Sommermonaten Schatten spendete. Sie nahm amüsiert zur Kenntnis, dass auf der Bank einige Bücher lagen, obwohl die Temperaturen eigentlich niemanden mehr dazu verleiten dürften, eine Lektüre im Freien vorzunehmen. Aber vielleicht beherbergte die kleine Bank diese schon seit dem vergangenen Sommer. Sozusagen als Zeugnis von Mr. O’Connells dort verbrachten Lesestunden. Violett hätte nur zu gerne einen Blick auf einen der Buchtitel geworfen. Dann nahm sie den Ahornbaum noch einmal kurz näher in Augenschein, denn seine vom Herbst gefärbten Blätter machten den Garten zu einem fröhlichen Farbenspiel.
Nun führte Mr. O’Connell sie direkt auf seine Haustür zu; der Weg führte über einige ins hohe Gras eingelassene alte Pflastersteine. Er öffnete die Tür ohne Schlüssel, was darauf schließen ließ, dass er in der Tat ein besonders tiefes Gottvertrauen besaß. Augenblicke später fand sich Violett in einer urigen Stube wieder. Rechts neben einem verwinkelten Fenster war eine alte Kuckucksuhr angebracht, und an den Wänden hingen lauter Bilder, die Naturmotive zeigten. Auffällig daran war, dass auf jedem Bild eine Trauerweide zu finden war. Doch gemalt worden waren sie, ihrem Stil nach zu urteilen, von jeweils unterschiedlichen Künstlern. Mr. O’Connell bemerkte nicht ohne Stolz, wie Violett sein Reich in Augenschein nahm. Man hätte fast meinen können, seine Brust würde dabei ein bisschen anschwellen.
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