Anita Lang - Es lebe der Sportsgeist

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Winter 1902 – In einem Dorf an der österreichischen Grenze beschließen zwei Freunde in weinseliger Laune, einen Turnverein zu gründen. Die beiden dynamischen Männer sind für zwei Damen aus der nahen Stadt entflammt, die sie für sich gewinnen wollen. Als sich einer der Väter in seiner Autorität bedroht fühlt, entbrennt ein Generationenkonflikt.

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Es lebe der Sportsgeist

Copyright Anita Lang, Wien

Covergestaltung Hermann Höger

eBook, Dezember 2020

ISBN 978-3-7529-2640-8

1. Fein gesponnen

Auch gesprächige Menschen haben ein Innenleben. Man glaubt, alles von ihnen zu wissen. Weil sie ja die ganze liebe Zeit reden. Wer weiß schon, warum sie das tun; vage versuchen sie, eine luftige Brücke zu schlagen, zwischen den Menschen. Etwas herauszufinden. Sehen sie einander als Freunde oder haben sie sich nichts zu sagen? Meistens hat man sich aber etwas zu sagen, wenn man voller Hoffnung ist. Manches Mal wenig. Ein andermal ist es eine ganze Welt, die ein Mensch mit dem anderen teilt.

„Leuchtet für alle, das Mondgesicht.“ Toni sieht mit zusammengekniffenen Augen in den klaren Nachthimmel. An den Türrahmen des Nekham-Wirtshauses gelehnt, schickt er sich schließlich an, zu gehen.

„Jetzt denken wir aber nicht auch noch über den nach“, drängt Otto hinter ihm. Drei steinerne Stufen hinunter. Die Schneelandschaft, grau in grau. Farben in der Nacht, sie verschwinden. Nuancen von Farben des Winters. Rutschige Wege, du musst vorsichtig wandern. Die nächtlichen Gassen glitzern in den ersten Tagen des Jahres 1902. Von Trauben berauscht, ziehen zwei Männer ihre Winterjacken über den wollenen Pullovern zu, um der bitteren Kälte zu trotzen. Sie wollen die Nacht noch auskosten, bevor mit dem nächsten Morgen, arbeitsreich ihr Tagwerk beginnt. Gespräche der Trunkenheit. Bringen vermehrt die Wahrheit ans Licht. Besser gesagt, die Spitze vom Eisberg der Wahrheit. An den Kern kommen nur die wenigsten, vielleicht einmal. Nach vielen Jahren, oder nach vielen Gesprächen mit ehrlichen Menschen. Manche sind verdorben. Was bei denen zum Vorschein kommt, im Suff, willst du gar nicht wissen. Es lenkt dich nur ab, von der Lösung deiner eigenen Rätsel. Die dich beschäftigen, wenn du aufschaust von deiner Arbeit, für kurze Zeit.

Für Toni Weigl, den Malermeister, geht die Arbeit erst im Frühjahr so richtig los, und dann zum Sommer zu, wenn die Voraussetzungen günstiger werden, für das Trocknen der frischen Farbe. Sein Betrieb ist im Haus seiner Eltern. Gezwungenermaßen, weil der Vater ihn partout nicht frei geben will. Um sich abzulenken, stürzt er sich in seine Arbeit, die den Leuten den Alltag auffrischt. Die ihn frei macht. Er liebt es, mit den Farbtönen zu gustieren. Ein Haus in neuem Gewand mit freudestrahlenden Kunden zurückzulassen. Zwei aufgeweckte Lehrlinge, die große Stücke auf ihn halten.

„Meister Weigl, woher haben sie den Schmiss auf ihrer Wange?“ „Sind sie bei einer Burschenschaft?“ Toni befühlt die schmale Furche unter seinem rechten Auge. Nein, das hat nichts von einer schlagenden Verbindung. Das behält er lieber für sich.

Sich auf den Weg machen, auch wenn es Winter ist. Licht auf den Dächern, helle klare glitzernde Schneehauben. Stille, in der jedes Wort mutig wird. Durch die sichtbaren Nebelschwaden, die im Nu verschwinden und sich auflösen, vor deinem Gesicht. Das ihn immer wieder erstaunt. Als wäre das erste Mal Winter. Bewegung bringt Segen. Was machst Du, wenn du einen Schwung hast, im Rausch, der zur Geltung kommen will.

An diesem Abend rutscht er auf schneeglattem Boden dahin, schlittert ein paar Momente. Sein Freund neben ihm, fängt ihn mit geschickten Griffen auf.

„Halt aus!“ Otto versucht, ihn übermütig auf seinen Rücken zu heben und ihn Huckepack zu tragen. Er ist eine Spur größer als Toni, will wiederum seine Stärke beweisen.

Spät ist es geworden. Im Wirtshaus in Höflein, an der Grenze zu Österreich, wird bereits das Licht ausgemacht. Schneedecken, wie beschützende, weiche Hände über den Dächern. Schritte knirschen, schlagen die Gegenrichtung zu ihren Häusern ein. Ihr lautstarkes Singen droht die schlafenden Nachbarn zu wecken, hat ganz und gar nichts von einem Schlaflied. Otto balanciert ausdauernd auf wackeligen Beinen, als er, der Last überdrüssig, Toni in eine Schneewechte wirft. Der ist jäh aufgewacht aus seinem Dunst. Ad hoc springt er eine schwungvolle Flanke über einen Bretterzaun, hinein in einen fremden Vorgarten. Wie Kinder, berstend voller Tatendrang, doch schon Mitte zwanzig, bewegen sie sich unaufhörlich. Allmählich zirkuliert der Kreislauf und verteilt die wohlige Wärme in ihren Körpern.

„Ziehen wir doch noch ein bisschen um die Häuser“, regt Toni an. Es tut gut, einmal seine Sorgen zu vergessen, in der Weinseligkeit. Sie haben viel zu bereden, zwei reife Burschen auf Brautschau. Halten stets die Augen offen, um nichts zu verpassen, was die junge, holde Weiblichkeit betrifft. Tonis braune Augen leuchten auf, wenn er von ihnen spricht. Wenn er die Frau finden könnte, wo ein Wort das nächste träfe. Es müsste etwas zum Bereden geben. Wie im Spiel. Und wenn sie neben einander schweigen, dann wäre eine friedliche Stille in der Luft. Otto redet von Haus aus nicht sehr viel. Man kann nur vermuten, wohin seine Gedanken wandern.

„Weißt du noch, wie beim vorigen Jahrmarkt“, erinnert ihn Toni an die tollkühnen Artisten in ihren sommerlichen Anzügen. Wieder sicherer auf den Beinen, gelingt ihm erneut ein Sprung über den Zaun.

„Die Kleine mit den Zöpfen, sie konnte sich gar nicht sattsehen, an den Kunststücken.“

„Was wäre, wenn wir solche Sprünge tun könnten, Einmal so einen Seiltanz vorführen, waghalsig zwischen Ruhm und Scheitern. Das wär doch was.“

Die Gefahr des Fallens. Du könntest fallen, dann tut‘s sicher weh. Aber wenn du Dein Gleichgewicht wieder gefunden hast. Dann bist du stärker, du kannst etwas; stehst sicher auf den Beinen, wie Säulen tragen sie den Künstler. Der sich überlegen fühlen kann, wenn er tüchtig ist. Und es unter Beweis stellt.

„Was meinst du dazu, mein Freund?“

Otto scheint zu überlegen. Wenn er nicht widerspricht, ist er wahrscheinlich einer Meinung, rechnet sich Toni aus. Auf dem Dorfplatz angekommen, erprobt er seine Kraftreserven an einem kahlen Apfelbaum. Er hantelt sich hoch auf einen tragenden Ast. Wie Staubzucker rieselt der Schnee zu Boden. Die hohen Winterschuhe rutschen etwas an der Rinde, doch die kalte Luft macht ihm auf einmal gar nichts mehr aus.

Von oben lässt er den Blick über das verschneite Dorf schweifen. Die verschlafenen Gärten um bäuerliche Höfe. Den Wald haben jetzt die Tiere vereinnahmt, für sich. Er sieht den Nachwächter, wie er gemächlich seine Runde zieht. Sein altbekannter Spruch, ein paar Gassen weiter:

„Alle meine Leut', lasst euch sagen,

der Hammer, der hat zweie gschlag'n,

gebts acht auf Feuer und Licht,

damit heut Nacht kein Unglück gschicht.“

Katzenhaft landet er auf der Erde. Otto mit den eisblauen Augen, steht trittfest unter dem Baum, beginnt mit Klimmzügen und schwingt sich kraftvoll über dem Boden hin und her.

„Wir müssten mehr üben“, meint er entschlossen.

„Einen Platz finden für unsere Turnstunden, wo wir zusammen kommen können, wo uns keiner stört“, spinnt Toni weiter an dem Faden, der noch dünn ist in seiner Beschaffenheit. Als könnte er jederzeit zerreißen. Eine schwärmerische Sehnsucht nach dem, was Akrobaten so leisten können. Die Augen können einem übergehen, wie sie sich kühn aufeinander stellen, in einer Menschenpyramide, weiter hoch hinauf in die Luft. Oder sie balancieren auf dünnen Seilen, schlank und sicher, frei und erhaben über einer Normalität im Vielvölkerreich des Kaisers. Über dem Duft nach Zuckerwatte und der strenger Ausdünstung der sensationellen Zirkustiere, den trötenden Kinderpfeifen inmitten der lärmenden Besucherscharen. Neugierig herbeiströmend in der Stadt Laa an der Thaya und aus den Dörfern, die sie umgeben.

Wieder zurück im Dorf können sie sich des Anblicks älter werdender Bauern nicht erwehren. Du willst etwas zeigen, was du kannst. Bevor es zu spät ist, dich eine Krankheit ereilt. Dich die Last des Alters überfällt. Wo du hinsiehst, kannst du die Spuren des Lebens sehen. Die Freude in Bewegung. Oder den Kummer, der den Rücken krumm macht. Die ausgemergelten Gestalten, wenn sie abends vom Acker heim kommen, gebückt von der Plackerei, starr in den Gelenken. Es muss doch noch etwas anderes geben.

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