Esmé Lammers
Lang lebe die Königin!
Aus dem Niederländischen von Beate und Arnica Esterl
Mit Illustrationen von Annemarie van Haeringen
Verlag Freies Geistesleben
Für die kleine Geena
Max Euwe, meinem Großvater, gewidmet
Bei folgenden Menschen will ich mich bedanken für ihre Inspiration, ihre Ratschläge und ihre Unterstützung: Hans Böhm, Caroline Euwe, Laurens Geels, Maarten van der Gugten, Liesbeth ten Houten, Jacolien Kingmans, Riana Scheepers und Elsemijn Teulings.
Diese Geschichte handelt von einem Mädchen namens Sara und von einer Königin. Nicht von einer normalen Königin wie die Königinnen in Holland oder England, sondern von einer Schachkönigin. Vielleicht glaubst du, dass eine solche Königin schrecklich langweilig oder streng ist, aber du wirst bald sehen, dass sie lieb ist und weise und dass ihre Augen immer lachen.
Die Geschichte fängt an, als Sara gerade acht Jahre alt geworden ist. Sie will in der Schule nicht lernen, vor allem, weil sie immer schlechte Noten bekommt. Und sie hat noch nie von der Schachkönigin gehört. Sie weiß also auch nicht, dass diese Königin ihre beste Freundin werden wird und dass sie zusammen Schach spielen lernen werden und dass sie sogar ihren Vater …
Nein, das werde ich jetzt nicht verraten, ich werde der Reihe nach erzählen. Es fing alles damit an, dass Sara einen Aufsatz über ihren Vater schreiben sollte.
Vielleicht merkt der Lehrer nicht, dass der Aufsatz gar nicht von meinem Vater handelt, dachte Sara. Sie hoffte jedenfalls, er werde nicht danach fragen. Denn sonst würde Mariette, das Mädchen in der Bank vor ihr, sich sofort umdrehen und anfangen zu fragen:
«Wo wohnt denn dein Vater? Warum wohnt er nicht bei euch? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?»
Sara wusste dann nie, was sie antworten sollte.
Die Kinder glaubten, dass sie es nicht hörte, aber Sara merkte schon, wie sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten:
«Sara hat keinen Vater.»
«Saras Vater will nicht bei ihr wohnen.»
Weil sie von ihrem Vater so gut wie nichts wusste, hatte Sara einen Aufsatz über ihren Großvater geschrieben.
Seit drei Jahren lebte sie mit ihrer Mutter bei ihm in dem großen Haus. Kurz vorher war ihre Großmutter gestorben, und der Großvater war traurig und einsam und kümmerte sich kaum noch um sich selbst. Da meinte Saras Mutter, dass es auch für Sara netter wäre, nicht immer allein zu sein, wenn sie selbst zur Arbeit ging. Und so zogen sie in das große Haus.
Sara hatte versucht, einen guten Aufsatz zu schreiben. Sie erzählte, dass «er» früher als Kapitän zur See gefahren war, jetzt aber immer zu Hause blieb (weil er pensioniert worden war, aber das schrieb sie lieber nicht dazu), und dass «er» das ganze Haus mit Kisten, Figuren und Schifffahrtsgeräten voll gepackt hatte, damit es noch ein wenig so aussah, als ob er auf einem Schiff wohnte. Sie schrieb auch, dass «er» fast den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer saß und an einem Stammbaum arbeitete. Sie erklärte sogar, dass ein Stammbaum eine lange Liste mit den Namen der Familienmitglieder ist. Alle standen sie darauf: Sara, ihre Mutter und darüber Saras Großvater und Großmutter und darüber deren Vater und Mutter und Geschwister.
An einigen Stellen des Stammbaums stand ein Fragezeichen, und das bedeutete, dass «er» nicht wusste, wie die Leute hießen. Wo der Name von Saras Vater hätte stehen sollen, war auch ein Fragezeichen. Das hatte sie aber lieber nicht in dem Aufsatz geschrieben. Nirgends hatte sie in dem Aufsatz gelogen. Sie hatte immer nur «er» geschrieben und niemals «mein Vater».
Die Aufsätze der anderen Kinder trugen den Titel: «Mein Vater». Über Saras Aufsatz stand: «Wer ist er?»
«Dein Vater wird sich freuen, Mariette!», sagte der Lehrer freundlich und gab Mariette ihren Aufsatz zurück. Rechts oben stand eine große Eins. Mariette schaute sich voller Stolz um. Der Lehrer kam zu Sara. Als Erstes sah sie, dass der ganze Aufsatz mit roten Korrekturen voll gekritzelt war. Darüber sprang ihr eine Vier förmlich in die Augen. Sara nahm das Blatt und wollte es gleich wegstecken, aber der Lehrer blieb stehen.
«Handelt der Aufsatz von deinem Großvater, Sara?», fragte er.
Er hatte es also gemerkt. Sara nickte.
«Ist das der Großvater, der sagt, dass du manche Dinge gar nicht zu wissen brauchst, weil du sie nachschlagen kannst?»
Sara spürte, wie die Kinder sie anstarrten.
«Es ist eine gute Geschichte, Sara. Nur schade, dass du so viele Schreibfehler gemacht hast, nicht wahr?» Der Lehrer schaute sie ernst an. Sara beugte sich über den Aufsatz, und der Lehrer ging weiter.
«Zeig mal her!» Mariette hatte sich tatsächlich schon wieder umgedreht.
Zögernd schob Sara das Blatt zu ihr hin.
«Mensch, so viele Fehler! Ich würde nie wagen, meinem Vater so was zu zeigen», sagte Mariette. Plötzlich sah sie Sara scharf an. «Aber du hast doch gar keinen Vater!», schrillte ihre Stimme durch die Klasse.
Sara riss ihr den Aufsatz aus den Händen.
«Klar habe ich einen Vater!»
«Ach ja, und wo ist er denn?»
«In Südafrika.»
«In Südafrika? Das kann doch gar nicht sein, dort sind alle Menschen schwarz.» Mariette drehte sich zu ihrer Nachbarin. «Siehst du, sie lügt wie gedruckt.»
Sara biss sich auf die Lippen. Tränen schossen ihr in die Augen.
Sara hatte nicht gelogen, als sie sagte, dass ihr Vater in Südafrika lebte. Das hatte ihre Mutter ihr selbst erzählt. Aber die Mutter sprach nur ganz selten darüber. Sara hatte schon öfter nach ihrem Vater gefragt, aber meistens wimmelte ihre Mutter sie ab. Nur das eine Mal, als Sara gesagt hatte, dass ihr Vater dann wohl tot sei, war ihre Mutter sehr erschrocken und hatte ihr versichert, dass er nicht tot war, sondern in Südafrika lebte.
Sara wusste gar nicht, wo Südafrika lag. Sie fragte ihren Großvater, und er zeigte es ihr auf dem großen Globus, der in seinem Arbeitszimmer stand. Eins war klar: Südafrika war weit weg!
Sara fürchtete, dass ihre Mutter böse würde, wenn sie weiter fragte, und deshalb hatte sie sich am nächsten Tag selbst auf die Suche gemacht.
Im Schlafzimmer ihrer Mutter stand eine große Überseekiste, und die hatte sie heimlich aufgeschlossen. Kunterbunt lagen die Sachen darin verstreut. Ein geblümtes Kleid, eine alte Handtasche, ein Schminkköfferchen, Briefe und Fotos. Die Fotos zeigten ihre Mutter als Stewardess und mit Freundinnen auf einer sonnigen Terrasse, und auf einem Bild war sie noch ganz jung und stand an der Reling auf Großvaters Schiff.
In einem dünnen, knisternden Umschlag voll mit verwischten Stempeln hatte sie noch ein Foto entdeckt. Es zeigte die Mutter neben einem Mann, den Sara nicht kannte. Sie standen vor einem großen Brett mit weißen und schwarzen Feldern. Auf dem Brett waren Figuren aufgeklebt. Sara konnte ein Pferd erkennen und einen Turm und Soldaten und auch eine kleine Krone.
Dann hatte sie sich den Mann genau angeschaut. Er hatte den Arm um Mutters Schultern gelegt und blickte ernst drein, als müsse er eine schwierige Aufgabe lösen. Ihre Mutter sah gar nicht ernst aus, sie lächelte vielmehr ganz fröhlich. Sara wünschte sich, der unbekannte Mann auf dem Foto wäre ihr Vater.
Sara schaute auf die kleine Uhr, die im Klassenzimmer über der Tür hing. Fast zwölf Uhr. Endlich fort, fort aus der Klasse! Sie malte das Bild von den Vögeln auf dem Schulhof schnell fertig. Das war das Einzige, was sie an diesem Vormittag getan hatte. Was sie nach der Schule anfangen sollte, wusste sie noch nicht. Ihre Mutter arbeitete im Friseursalon, und ihr Großvater war mit seinem Stammbaum beschäftigt. Aber draußen war es immer noch besser als in der Klasse, draußen fragte keiner, wie viel zwölf mal drei ist.
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