»Dürfen wir hereinkommen?«, fragte der Pfarrer freundlich. Seine Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.
Violett hätte am liebsten »Nein« gesagt und gehofft, sich in einem Traum zu befinden. Doch stattdessen nickte sie nur kurz mit dem Kopf. Der Pfarrer sah sich, nachdem er seine Schuhe auf dem borstigen Abtreter vor der Tür abgestreift und die Wohnung betreten hatte, flüchtig um. Man hätte fast glauben können, dass es ihm unangenehm war, sich genauer umzuschauen. Er tat sich schwer, seine Überraschung über den Zustand der kargen Wohnung zu verbergen, und hätte wohl eines der Zehn Gebote brechen müssen, wenn er behauptet hätte, es sehe hier sehr schön aus. Auch die Kundin sah sich merklich verblüfft um, doch gleich darauf war ihr Gesichtsausdruck wieder ernst geworden.
Violett hätte sich gewünscht, dass die beiden für die Kirchenkollekte sammelten und dafür von Tür zu Tür zogen, doch ihr war klar gewesen, dass dies nur ein großer Wunsch ihres Herzens war, der sich nicht erfüllen würde, nein, nicht erfüllen konnte. Die Vorboten dafür, welche Art von Nachricht die beiden ihr überbringen würden, waren nicht zu übersehen. Violett hatte ihnen mit einer kurzen Handbewegung zwei der drei alten Stühle zugewiesen, die stets bedrohlich zu knirschen begannen, sobald ein übergewichtiger Mensch auf ihnen Platz nahm. Als sie zu dritt um den Tisch herum saßen, fühlte sich Violett in ihrer Wohnung wie eine Gefangene. Die kahlen Wände, die sie umgaben, schienen sich bedrohlich auf sie zuzubewegen. Violett hatte den unwiderstehlichen Drang verspürt, das Haus sofort zu verlassen und ihren Lieblingsstrand aufzusuchen. Sie wollte fliehen. Doch wer konnte schon vor der Wahrheit davonlaufen? Vor einer, die das eigene Leben für immer verändern würde? Der Pfarrer hatte gemerkt, dass Violett bereits jetzt ganz blass um die Nase war und sie sich denken konnte, dass es kein Zufall war, dass er da war.
»Ms. Maycen, es tut mir leid, dass der Grund, warum wir Sie heute aufsuchen, von sehr trauriger Natur ist. Ich wollte Ihnen Beistand leisten. Das ist meine Aufgabe als Seelsorger, und die nehme ich sehr ernst. Ihre Mutter, Mrs. Laura Maycen, hat heute nach Auskunft des hier ansässigen Arztes Dr. Saunders einen Herzinfarkt erlitten, der leider binnen Sekunden zu ihrem Tod führte. Die Frau, die Sie neben mir sitzen sehen, ist Mrs. Peters. Sie war im Laden, als Ihre Mutter den Infarkt erlitt. Obwohl sie sofort die Nummer des Notarztes wählte, als sie sah, wie sich Ihre Mutter ans Herz griff und zusammenbrach, konnte dieser nach seinem Eintreffen nur noch ihren Tod feststellen. Obwohl ich Sie und Ihre Mutter nie in der Kirche oder auf dem Friedhof gesehen habe, bedauere ich es sehr, dass der Grund unseres Aufeinandertreffens nun dieser ist. Bitte verstehen Sie Ihr Fehlen bei den Gottesdiensten nicht als Vorwurf. Ich erwähne es nur, weil wir uns bisher nur sporadisch beim Bäcker oder im kleinen Lebensmittelgeschäft im Ort begegnet sind.«
Die Frau neben ihm hatte daraufhin das Wort ergriffen. Sie druckste erst ein wenig herum und holte mehrmals tief Luft, ehe sie zum Reden ansetzte. »Wir Leute hier im Ort kennen Ihre Mutter zwar nur mit Nadel und Faden in der Hand. Dennoch nehmen wir alle Anteil an ihrem Schicksal.« Sie lächelte Violett etwas gezwungen, aber doch freundlich zu.
Der Pfarrer räusperte sich kurz. »Wir wollen Ihnen aber auch nicht vorenthalten – selbst wenn es zunächst etwas pietätlos und obsolet erscheint –, dass es Probleme beim Ausstellen des Totenscheins Ihrer Mutter gab. Ihre Mutter hatte keine Papiere bei sich. Nun wird nach ihrer Geburtsurkunde geforscht. Dann erst kann dieser Schritt vollzogen werden. Sie können sich jederzeit an mich wenden, wenn Sie in den nächsten Monaten und natürlich auch darüber hinaus Hilfe benötigen sollten.«
Die Frau fragte sichtlich interessiert und zugleich peinlich berührt: »Ich will nicht neugierig erscheinen, aber Ihre Mutter hat nie von sich erzählt. Wo ist sie denn zur Welt gekommen?«
Violett fühlte sich mit einem Mal vollkommen leer. Sie empfand eine nie gekannte Erschöpfung. Bei dieser Frage spürte sie Hammerschläge in ihrem Kopf. Nicht einmal Tränen kamen, dafür saß der Schock zu tief. Sie nahm eine für sie untypische abwesende Haltung ein, bevor sie schließlich mit einer Stimme, die zu brechen drohte, mühsam hervorbrachte: »Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie eine Hausgeburt war und in Liverpool zur Welt gekommen ist.« Das war eine Lüge, aber was hätte sie sonst machen sollen? Violett hatte London ganz bewusst nicht erwähnt. Ihren eigentlichen Verdacht. Ihre Lippen öffneten sich erneut, um Worte zu formen, die jedoch einfach nicht herauskamen.
Danach herrschte für ein paar Sekunden ein betroffenes Schweigen. Nicht einmal der Pfarrer schien in dem Moment zu wissen, was er Violett am besten sagen sollte, um den Schmerz zu mindern, den er ihr trotz ihrer starren Haltung natürlich deutlich ansehen konnte. Zu dem Schmerz, den Violett bei der Gewissheit empfand, dass sie ihre Mutter nie wieder durch die Wohnungstür treten sehen würde, hatte sich zum ersten Mal ein Gefühl gesellt, das sie innerlich zu zerreißen drohte: das der größten Verzweiflung ihres Lebens. In dem Moment traten aus ihren Augenwinkeln die ersten Tränen, die langsam über ihre Wangen zu fließen begannen.
Violett war in diesem Augenblick klar geworden, dass sich bestätigen würde, was sie zeitlebens befürchtet hatte: Sie hatte ihre eigene Mutter nicht gekannt. Laura war leider über all die Jahre so gesprächig geblieben wie eine Holzpuppe. Violett wusste rein gar nichts. Sie kannte nur den vermeintlichen Vornamen ihres verstorbenen Vaters. Bei Tisch oder vor dem Zubettgehen waren immer nur ihre eigenen Bedürfnisse diskutiert worden. Wie furchtbar! Ein Armutszeugnis!
Sie hatte doch bei ihrem letzten Streitgespräch alles erfahren wollen. Erfolglos. Sie wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie weit sie den Pfarrer über ihre missliche Lage ins Vertrauen ziehen sollte, schließlich kannten sie sich kaum. Was hätte er ihr gesagt? Dass sie eine schlechte Tochter gewesen war, weil sie es nicht geschafft hatte, ihre Mutter dazu zu bewegen, über all das zu reden, was tief in ihr verborgen gewesen war? Sie aus der Reserve und ihrem Schneckenhaus zu locken, das viele als undurchdringlichen Panzer angesehen hatten? Und nun? Nun würde sie vielleicht einiges über Laura auf eine für sie unangenehme Art und Weise erfahren müssen. Durch Leute, die sie gekannt hatten und vielleicht ihre Traueranzeige in der Londoner »Times« entdecken würden. Dritte. Doch dann war Violett eingefallen – und sie hätte sich vor lauter Dummheit am liebsten selbst auf die Stirn geschlagen –, dass dies auch eine große Chance bedeuten konnte. Es könnte Licht in das Dunkel ihrer Familiengeschichte bringen. Aber ob sich wirklich Bekannte melden würden? Laura hatte sie schließlich ihr ganzes Leben lang erfolgreich ignoriert. Wenn doch nur ihre Familienmitglieder ein Zeichen von sich geben würden. Sie mussten einfach noch am Leben sein. Da war Violett sich sicher. Mit großer Wahrscheinlichkeit in London. Sie würde endlich erfahren, woher sie kam. Bei diesem Gedanken hatte Violett die erste positive Emotion verspürt, die sie angesichts von Lauras Tods in der Lage war, zu empfinden.
Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter fähig gewesen war, London so zu umgehen wie die Katze einen Hund. Ihre Heimat musste also London sein. Violett dachte an einen Schulausflug, der sie in die Hauptstadt geführt hatte. Sie war von der Mutter einer Freundin abgeholt worden, da Laura angeblich schon am Morgen, noch bevor der Schulbus aufgebrochen war, von so schrecklichen Kopfschmerzen gequält worden war, dass sie sich ihrer Aussage nach in keinen Zug oder Bus hatte setzen können. Beschwerden, über die sie zuvor nie geklagt hatte.
Violett fühlte ein großes Loch in ihrem Magen, das nicht vom Hunger herrührte, denn sie hatte vor Beendigung ihrer Schicht auf Rechnung des Cafés noch ein paar Brötchen essen dürfen.
Читать дальше