Violetts Blick heftete sich auf etwas, das weder der Pfarrer noch die Frau sehen konnten. Es waren die kleinen weißen zerkratzten Türen des Wandschranks. Darin verborgen lag der Tee, den sie immer in Lauras Beisein genossen hatte: der gute Earl Grey. Violett schluchzte wie ein kleines Kind und fühlte sich einem Gefühlsausbruch nahe. Den Pfarrer und die Frau nahm sie kaum noch wahr. Vor ihren Augen verschwamm alles.
Der Ausbruch ihrer Emotionen war nur schwer zu unterdrücken, sodass Violett an den Pfarrer und die Frau gerichtet lediglich herausbrachte: »Bitte gehen Sie jetzt. Danke für Ihr Kommen, aber ich muss jetzt alleine sein.«
Dieser Aufforderung folgten die beiden mit einem kurzen verständnisvollen Nicken. Kaum waren die Tür ins Schloss gefallen und die Überbringer der Hiobsbotschaft im Treppenhaus verschwunden, hatte Violett angefangen zu weinen, zu schluchzen und zu stöhnen. Das Gefühlsgemisch in ihrem Bauch brach wie ein Damm, dessen Schleusen sich wohl nicht so schnell wieder schließen würden. Mehrere Schuldgefühle schienen gleichzeitig an Violetts Tür zu klopfen. Sie hatte laut herausgeschrien, was ihr durch den Kopf schoss. Ihre Gedanken waren wie Gewehrschüsse.
»Was bin ich für eine Tochter? Ein Mensch, den ich geliebt habe, ist gegangen, ohne dass ich ihn gekannt habe! Ich habe versagt! Ich bin einfach eine furchtbare Kreatur!«
Doch dann hatte sie tief Luft geholt und hinzugefügt: »Aber ich habe aus allem gelernt.«
Sie gab sich gefühlt für Stunden ihren Emotionen hin. Die Nachbarn nebenan erlebten wohl ein besonderes Geräuschkonzert. Doch das kümmerte Violett nicht. Warum auch? Sie war der Meinung, dass sie jeden Grund hatte, sich verzweifelt und am Boden zerstört zu fühlen.
Doch als irgendwann keine Schluchzer und keine Tränen mehr kamen, bewegte sie sich beinahe taumelnd, als hätte sie sich in einer Bar zu viele Pints gegönnt, zunächst auf das alte Fenster zu und schloss die spärlichen Vorhänge und wankte dann hin zu der alten Couch. Auf eigenartige Weise hatte sie das Gefühl, auf diesem alten Möbelstück ihrer Mutter noch einmal nahe sein und ihre Gegenwart spüren zu können. Die Couch hatte wie gewöhnlich geknarrt, als sie sich auf sie sinken ließ. Eigentlich hatte sie schlafen wollen, doch kaum lag sie auf der Couch, konfrontierte sie ihre Mutter in Gedanken noch einmal mit all den Fragen, die sie ihr hätte stellen müssen, noch bevor sie für immer gegangen war. Am Ende war es ihre eigene Stimme, die Violett in den Schlaf driften ließ. Dann war sie von einem Gefühl der Ohnmacht übermannt worden und eingeschlafen.
Violett landete mit ihren Gedanken wieder in der Gegenwart. Nach diesem Bad in Erinnerungen hatte sie erst recht Mühe, sich von der Couch zu erheben. Sie glaubte, ihren Oberkörper nicht mit ihren Armen hochstemmen und abstützen zu können. Vorerst hätte sie im Grunde auch liegen bleiben und darauf warten können, dass das alte Telefon klingelte und irgendjemand anrief, um ihr sein Beileid auszusprechen. Doch sie wusste, dass sie sich ihrem neuen Leben stellen musste. Es gab keine Ausreden mehr. Weiter zu grübeln war auch keine Lösung.
Violett starrte kurz auf das Telefon, als erwarte sie von ihm eine Regung. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sich außer Brian sowieso niemand melden konnte, denn Laura hatte stets darauf bestanden, dass ihre Nummer nicht im Telefonbuch erschien. Ihren Kunden hatte sie lediglich die Nummer ihres Anschlusses in der Schneiderei überlassen. Im Grunde konnten sich nur Beileidskarten in ihren Briefkasten verirren, den Laura aus reinen Vernunftgründen nicht entfernt hatte. Gleichzeitig flammte in Violett erneut die Hoffnung auf, dass sie eine Nachricht von Lauras Familie erhalten würde. Da dies jedoch mehr als unwahrscheinlich war, beschloss sie, sich diesem Wunschtraum nicht länger hinzugeben.
Über die Anteilnahme der Dorfbewohner würde Violett sich in der Tat freuen, obwohl sie vermutete, dass hinter den Karten nicht allzu viel aufrechtes Beileid stecken würde. Was sollten Lauras Kunden auch schreiben? »Wir werden Ihre Mutter vermissen, sie hat immer hervorragende Arbeit geleistet, endlich sitzen die Knöpfe meines Sakkos wieder perfekt.« Oder: »Schade, dass sie nicht mehr da ist. Sie hat meine Abendkleider perfekt gekürzt, jetzt kann ich meine langen Beine besser zur Schau stellen.« Am Ende kam Violett zu dem Schluss, dass geheucheltes Beileid immer noch besser war als gar keines. Außerdem war zumindest sie im Ort sehr beliebt. Mochte Großbritannien auch eine Insel sein, Violett war keine.
Ihre Kontaktfreude hatte ihr unbewusst schon immer als wichtiger Gegenpol zu ihrer Mutter gedient. Allein dieser Charakterzug hatte es ihr schließlich ermöglicht, zu einem ausgeglichenen Menschen heranzuwachsen. Denn wer wollte schon von der eigenen Mutter über alle Maßen verehrt werden, ohne in Kontakt zu den restlichen Erdbewohnern zu treten? Violett blickte, nachdem sie all ihre Kräfte mobilisiert und sich beinahe kriechend von der Couch erhoben hatte, an sich herunter. Sie trug noch immer das Outfit ihres Brötchengebers. Die Uniform einer einfachen Bedienung: eine lange schwarze Hose und eine blütenweiße Bluse mit drei Knöpfen. Am liebsten wollte sich Violett der Bluse sofort entledigen, sie sich gar vom Leib reißen. Denn die Farbe Weiß symbolisierte ja bekanntlich Unschuld. Unschuldig fühlte sie sich aber nicht. Überhaupt nicht. Immerhin war doch sie die Schuldige, wenn sie als Tochter einer Mutter, die gestern an einem Herzinfarkt gestorben war, ebenso ahnungslos durch die Gegend lief wie alle übrigen Dorfbewohner, was das so gut gehütete Geheimnis ihrer Mutter anbelangte. Diese Schuldgefühle quälten sie weiterhin, auch wenn sie eine Chance sah, zumindest einen Großteil ihrer Familiengeschichte nachzuholen. Sie dachte erneut über die möglichen Umstände des Todes ihrer Mutter nach. Wie war es überhaupt zu dem Herzinfarkt gekommen? All die Fragen, die sie schon gestern nur schwer wieder losgelassen hatten, geisterten von Neuem durch ihren hübschen Kopf.
Was war der Auslöser für den Herzstillstand gewesen? Der Schmerz, den Laura in einer Vergangenheit erlebt, der sie über all die Jahre verfolgt und den sie bis zu ihrem Tod geleugnet hatte? Oder der Verlust von Violetts Vater, den sie nie verwunden hatte?
Resigniert stellte Violett fest, dass sich ihre Mutter ihres Wissens nie auf die Suche nach seinem Grab begeben hatte. Warum? Wusste sie nicht, wo es lag? Sie hatte ihn doch so sehr geliebt.
Die Tatsache, dass es das Herz gewesen war, das im Körper ihrer Mutter nicht mehr schlagen konnte oder wollte, bereitete Violett Magenkrämpfe. Sie merkte, dass sie sich erneut in einer Art Gedankenstarre befand, aus der sie sich lösen musste.
Ein Tee würde ihren Magen sicher beruhigen. Gleichzeitig wollte sie unbedingt etwas mit einem hohen Koffeingehalt trinken, um den Tag überhaupt in Angriff nehmen geschweige denn überstehen zu können. Ehe Violett sich auf den Wandschrank zubewegte, in dem der Kaffee stand, trat sie entschieden auf das Fenster zu und riss die alten Vorhänge zur Seite. Sofort lag der Raum in blendendem Licht und wurde bis in den letzten Winkel mit Sonne geflutet. Violetts Augen schlossen sich kurz und öffneten sich dann langsam wieder, um sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Violett schritt dann bestimmt auf den Wandschrank zu, aus dem sie den Kaffee holte, den sie am liebsten so hochdosiert in die Kaffeemaschine geben wollte, sodass sie den Rest des Tages in einer Art Wachzustand verbringen würde. Sie musste vieles erledigen und durfte deshalb keine Schwäche zeigen. Zumindest heute nicht. Sie hatte nämlich nicht vor, zusammenzubrechen, wenn sie die Urnenbeisetzung mit Mr. Wilder besprach, den sie am Nachmittag aufsuchen wollte. Ihm gehörte das einzige Bestattungsunternehmen in der Nähe. Violett fand, dass er für seinen Beruf eigentlich ein viel zu fröhlicher Mensch war. Er war klein, kugelrund und stets bester Laune. Wenn man ihn auf der Straße traf, bekam man glatt das Gefühl, als würde ihm sein Beruf ein fortwährendes Lächeln ins Gesicht zaubern. Denn ein Familienleben hatte er nicht. Im Geschäft setzte er zwar oft eine Trauermiene auf, doch man hatte dabei stets den Eindruck, dass es ihm schwerfiel, sein für ihn typisches seliges Lächeln zu unterdrücken.
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