»Ich habe es schön hier, nicht wahr?«, fragte er mit einem freundlichen Lächeln und machte eine ausschweifende Handbewegung.
Violett war sich sicher, dass er eine rhetorische Frage gestellt hatte. Aber wichtiger als die Einrichtung seines Heims war Violett nun doch das, was er ihr zu berichten hatte. Endlich das Gespräch zu führen, das ihr auf der Seele lag.
Der Pfarrer wies ihr einen der vier Stühle zu, die um einen breiten Eichenholztisch angeordnet waren, der wiederum nicht fein verarbeitet war, sondern eher grob und ursprünglich wirkte. Obwohl im Raum auch ein großer Lehnsessel stand, setzte sich Mr. O’Connell natürlich zu Violett an den Tisch, um nicht den Eindruck zu erwecken, er würde Lauras Tod aus einem sehr entspannten Blickwinkel betrachten. Denn im Grunde war er sogar sehr an Violetts und damit auch an Lauras Schicksal interessiert. Auf dem alten Tisch lag eine Decke, die Englands berühmteste Glocke, Big Ben, zeigte. Dass der Pfarrer keine Tischdecke mit einem kirchlichen Motiv, beispielsweise Westminster Abbey, gewählt hatte, überraschte Violett ein wenig.
Als hätte er ihre Gedanken erraten, bemerkte der Pfarrer: »Ich habe mir dieses Motiv bewusst ausgesucht, da Zeit meiner Meinung nach unser wichtigstes Gut ist. Sie entscheidet über unser Leben und kennt die Antworten auf die Fragen, die wir uns immer erst im Nachhinein geben können. Wir sind nur fähig, sie durch unsere Taten zu beeinflussen. Den Rest müssen wir Gott und dem tiefen Vertrauen in unsere eigene Person überlassen. Zeit bleibt in unseren Breitengraden diejenige Größe, die sich über die Jahrhunderte nicht verändert hat. Sie ist der Fix- und Angelpunkt seit der Einführung des gregorianischen …« Der Pfarrer stockte; er hatte wohl gemerkt, dass er abgeschweift war.
Violett vermutete, dass er ihr einen unbeschwerten Einstieg in ein äußerst schwieriges Gespräch ermöglichen wollte. Dies war natürlich kein leichtes Unterfangen.
»Es tut mir leid, wenn Sie glauben, ich säße nur hier, um Ihnen meine Beweggründe für die Wahl meiner Habseligkeiten nahezubringen. Es geht bei Ihrem und damit auch meinem Anliegen natürlich um etwas viel Bedeutenderes.« Seine Stimme nahm einen anderen, weitaus ernsteren Klang an. »Es mag eigenartig erscheinen, aber selten hat der Tod einer Einwohnerin von Westshire so viele Rätsel aufgegeben«, begann er mit sichtlicher Mühe. Nicht wenige hätte eine solche Aussage wahrscheinlich aufhorchen lassen oder gar erschüttert. Violett jedoch nahm sie mit Fassung auf. Dass sich hinter der Person ihrer Mutter ein großes Geheimnis verbarg, wusste sie aus eigener Erfahrung schließlich nur zu gut.
»Das liegt sicher nicht an der Todesursache«, meinte Violett mit einer Unbeschwertheit in der Stimme, die es dem Pfarrer leichter machen sollte, weiterzureden.
Ihre eigenen Emotionen versuchte sie, wie in einer Glaskugel so gut wie möglich unter Verschluss zu halten, und übte sich damit in Lauras größter Disziplin. Sie wollte ohne Tränen und völlig nüchtern etwas Neues erfahren, das sie in ihrer ganz eigenen Mission unterstützen würde.
Der Pfarrer wirkte angesichts ihrer Gelassenheit zunächst etwas überrascht, fuhr dann aber fort: »Ich werde mir gerade darüber bewusst, dass Sie, wie alle hier in Westshire berichten, in der Tat ein sehr aufgewecktes und kluges Mädchen sind. Aber ich will mich nicht mit Komplimenten aufhalten, wo ich doch deutlich spüre, dass Sie zur Detektivin Ihrer eigenen Familiengeschichte werden wollen und sollen. Denn Ihre Mutter …« Der Pfarrer war trotz Violetts zur Schau getragener Gelassenheit nicht sicher, wie er das formulieren sollte, was er Violett nun mitteilen musste. Doch nachdem er einmal tief Luft geholt hatte, nahm er einen neuen Anlauf und sagte so beherrscht wie möglich: »Ihre Mutter war auf dem Papier nie eine Maycen.«
Violett zuckte zusammen, denn diese Nachricht erschütterte sie in ihren Grundfesten. Trug sie etwa einen Familiennamen, der das Fantasieprodukt ihrer Mutter war? War Laura eine Hochstaplerin gewesen? In ihrem eigenen Pass stand doch …
»Miss«, der Pfarrer schien mit einem Mal unsicher zu sein, mit welchem Namen er Violett ansprechen sollte, »es sieht ganz so aus, als wäre Ihre Mutter auf unerklärliche Weise an einen Pass gekommen, der nicht ihren korrekten Namen wiedergibt. Das gibt auch den Behörden hier vor Ort große Rätsel auf. – Sie stehen damit vor dem Problem, dass sie nicht wissen, nach welcher Geburtsurkunde sie suchen sollen. Es mag hier auf der Insel zwar viele Maycens geben, aber mit keinem von ihnen war Laura blutsverwandt. All ihre Familienmitglieder müssen bereits verstorben sein, sodass eine Blutsverwandtschaft nur noch auf sehr teurem Wege nachzuweisen wäre, was außerdem einen unglaublichen Arbeitsaufwand nach sich ziehen würde, den die Behörden unbedingt umgehen wollen und zu meinem Missfallen sicher auch umgehen werden. Denn kein Brite wünscht – so hat es ein Beamter mir gegenüber formuliert –, dass Steuergelder für Recherchen nach dem wahren Familienhintergrund einer Person ausgeben werden, die nicht von öffentlichem Interesse ist. Die Beamten fühlten sich in diesem Punkt nach einem Blick auf die Vita Ihrer Mutter bestätigt. Doch aus welchem Grund Laura so handelte wie geschehen, lässt natürlich viele Fragen zurück. Außer Ihnen und meiner Wenigkeit will sich aber offensichtlich niemand mit diesem Thema befassen.«
»Sie wollen mir helfen?«, fragte Violett. Ihr traten Tränen in die Augen, deren Glanz sich im Sonnenschein reflektierte, der durch eines der kleinen Fenster fiel. Es war nur allzu verständlich, dass sie nun nicht länger zu einem gelassenen Auftreten fähig war. Wie hätte sie angesichts dieser Nachricht auch Unbefangenheit demonstrieren können? Sie trug nicht einmal einen gesetzlich korrekten Nachnamen. Wer wäre da an ihrer Stelle nicht verzweifelt? Musste man sie nun als Ms. X oder Ms. Y. ansprechen? Dann schöpfte sie für einen Moment Hoffnung.
»Mr. O’Connell«, begann sie mit zittriger und tränenerstickter Stimme, »ist es nicht möglich, dass ich den Nachnamen meines Vaters trage?«
»Die Behörden haben zunächst natürlich auch in diese Richtung geforscht. Ihre Mutter scheint, wenn überhaupt, nur eine symbolische Ehe eingegangen zu sein, denn es gibt kein Schriftstück, das ein von ihr und einem Mann geschlossenes Bündnis bezeugt.«
»Darf ich Ihnen noch etwas anvertrauen?«
Der Pfarrer lächelte leicht amüsiert, als sei dies eine völlig überflüssige Frage. Sprachen sein Beruf und sein Auftreten ihr gegenüber nicht für sich?
»Reden Sie nur, ich habe Ohren, die viel hören und einiges aushalten können«, meinte er. »Dass ich, egal, welche Information Sie mir auch geben mögen, zum Schweigen verpflichtet bin, ist Ihnen ja bekannt. Schon bevor ich mich der Religion und dem Herrn verschrieben habe, habe ich die Geheimnisse vieler Klassenkameraden mit mir herumgetragen. Die hätte keiner aus mir herausgeholt. Selbst dann nicht, wenn man mich mit Lakritze und Lollis auf dem Schulhof bestochen hätte. Da die Sorgen und Nöte meiner Klassenkameraden bei mir schon immer gut aufgehoben waren, besaß ich wohl bereits früh eine nicht zu verachtende Prädestination für meine Stellung, wobei dieses Wort für mich kaum eine Bedeutung hat. Denn für mich ist sie vielmehr eine Aufgabe und Berufung.«
Violett nahm all ihren Mut zusammen, bevor sie weitersprach: »Meine Mutter war für mich schon früh eine Art Gralshüterin. Nur einmal – ich war gerade fünf Jahre alt – hatte ich die Chance, den vermeintlichen Vornamen meines Vaters zu erfahren. Ich hoffe, dass zumindest dieser kein Fantasieprodukt meiner Mutter war.«
»Das würde ich mir ebenfalls wünschen. Verraten Sie ihn mir?«
»Cedric«, stieß Violett angestrengt hervor.
»Das könnte tatsächlich ein Anhaltspunkt sein«, meinte der Pfarrer und legte seine Stirn in Falten. »Da bisher keine Familienmitglieder zur Identifizierung Ihrer Mutter ausfindig gemacht werden konnten, ist er der Einzige, den wir vorerst haben.«
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