Nun setzte Violett die Kaffeemaschine in Gang. Ein neues Modell. Brian hatte sie – für Laura völlig unerwartet – bei seinem ersten Besuch mitgebracht. Dieses Geschenk hatte Laura schon aus reiner Höflichkeit kaum ablehnen können, auch wenn sie Brian die Maschine wohl nur allzu gerne um die Ohren gehauen hätte. Brian hatte Violetts Nöte in der prähistorischen Welt ihrer vier Wände lindern wollen. Denn Violett hatte ihm natürlich vom morbiden Charakter der Wohnung erzählt.
Nachdem Violett die Kaffeepads eingesetzt und den dafür vorgesehenen Behälter der Maschine mit Wasser gefüllt hatte, setzte sie sich auf einen der drei Stühle am Tisch, der das Zentrum ihres Wohnzimmers bildete. Sie trommelte gerade mit den Fingerspitzen auf der Tischoberfläche herum, als sie die Kaffeemaschine durch einen Piepton wissen ließ, dass sie das Wunder der Kaffeezubereitung vollbracht hatte. Violett wäre es fast lieber gewesen, es hätte ein bisschen länger gedauert. So musste sie sich schon wieder erheben. Sie schlurfte zur Maschine hinüber, wo sie, nun doch sehr dankbar, die gefüllte Tasse entgegennahm. Sie trank ihren Kaffee sonst zwar nicht schwarz, aber heute wollte sie eine Ausnahme machen. Dass er noch recht heiß war, störte sie ebenso wenig. Mit solchen kleinen Details wollte sie sich heute nicht aufhalten. Die Welt drehte sich für sie jetzt sowieso in eine andere Richtung. Sie hatte keine andere Wahl, als sich mitzudrehen. Sie lief in ihr kleines Zimmer, in dem ein Schrank stand, der all ihre Kleider beherbergte. Sie zog die schwarze Hose aus und legte sie fein säuberlich auf einen Stapel im Schrank. Da sie nicht ihr Eigentum war, wollte sie keine Falten riskieren, auch wenn dies im Moment eigentlich vollkommen zweitrangig war. Sie entschied sich für eine graue Hose und eine dunkelblaue Bluse, deren Farbe sie ein wenig an das Blau des von ihr so geliebten Meeres erinnerte. Ein kleiner Trost. Schließlich kam sie zu dem Entschluss, nichts weiter zu frühstücken.
Sie schloss kurz die Augen und sah vor ihrem inneren Auge das Meer mit seinen majestätischen Schaumkronen. Nur zu gerne wollte sie die Brise spüren, die von Jodsalz geprägt war und bei günstiger Windrichtung an Land getragen wurde. Sie überlegte kurz, an die Küste zu fahren. Es gab einen Bus, der in ihrer unmittelbaren Nähe hielt. Dann aber befand sie, dass sie das Meer erst aufsuchen sollte, nachdem sie einen Teil ihrer Aufgaben erledigt hatte, da sie sich nicht sicher war, ob sie sich überhaupt wieder von ihm würde losreißen können, sobald sie es erst einmal gesehen hatte.
Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz vor elf.
Das bedeutete, dass der Pfarrer noch nicht in der Mittagspause war, die er nicht gerade vorbildlich in einer kleinen Bar am Rande der Stadt zu verbringen pflegte. Er mochte Wasser predigen, dem Wein war er trotzdem sehr zugetan. Aber wer sollte es ihm verübeln? Denn auch ein Diener des Herrn, wie er sich selbst nannte, wollte die Seele von Zeit zu Zeit baumeln lassen. Seine Gottesdienste waren deswegen so beliebt, weil er es verstand, sowohl Anglikaner als auch Katholiken gleichermaßen anzusprechen. Violett glaubte, ihn schon allein deswegen bald aufsuchen zu müssen, weil er ihr gestern seine Hilfe angeboten hatte und sie ihn nicht kränken wollte. Außerdem brauchte sie tatsächlich ein offenes Ohr. Brian steckte schließlich auf Erkundungsreise und hatte sie schon vor Antritt seines Fluges nach Rom wissen lassen, dass er sein Handy ausschalten würde. Er wusste, dass Professor Conners, bei dem er seinen Abschluss machen würde, ein Mann der alten Schule war. Handyklingeltöne hatten seiner Meinung nach in einer so ehrwürdigen und geschichtsträchtigen Stätte wie Rom nichts zu suchen.
Violett fand, dass ihre Bluse und ihre Hose züchtig genug waren, um ein Gotteshaus zu betreten. Außer zur Mittagszeit und nachts traf man den Pfarrer immer in der Kirche an, wie ihr die Leute in der Cafeteria berichtet hatten. Direkt neben dem alten Backsteingebäude stand laut den Erzählungen ein kleines Häuschen, das sich der Pfarrer sehr gemütlich eingerichtet hatte. Das ewige Glockengebimmel nebenan nahm er dafür angeblich billigend in Kauf.
Violett warf noch einen kurzen Blick in den Spiegel. Sie kämmte sich ihr goldbraungelocktes schulterlanges Haar und war sich sicher, dem Pfarrer mit der Trauermiene, die der Spiegel reflektierte, problemlos gegenübertreten zu können. Sie war ohnehin davon überzeugt, dass ihr in nächster Zeit ein Lächeln nur schwer über die Lippen kommen würde. Selbst dann nicht, wenn sie ihre Lieblingsfolgen von Mr. Bean anschauen würde, die sie als Kind am Wochenende im Schlafanzug und mit einem Teller Brownies immer genossen hatte. Einen Fernseher und einen Videorekorder hatte ihr Laura glücklicherweise nie abgeschlagen.
Violett verwarf diesen doch sehr nichtig erscheinenden Gedanken und blickte aus dem Fenster. Draußen zeigte sich das Wetter weiterhin von seiner besten Seite. Im Gegensatz zum Vortag schien die Sonne hoch am Himmel, und man glaubte, die weißen Schäfchenwolken am Himmel an einer Hand abzählen zu können. Na schön, dachte sich Violett, vielleicht will mir Petrus ja nur Mut machen. Sie zog ihre High Heels an, denn sie gehörte der überzeugten Sex-and-the-City-Generation an. Ihre alten Halbschuhe hatte sie wenige Tage zuvor genüsslich weggeworfen. Entgegen der Einstellung ihrer Mutter sah sie keinen Grund dafür, in der Steinzeit zu leben. Trotzdem durchfuhr ein Messerstich ihr Herz, als sie die schicken Riemchen um ihre Fußgelenke legte. Musste sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Es war doch kein Verrat, wenn … Mit einem kurzen Kopfschütteln lief sie zum Schlüsselbrett, griff nach dem Haustürschlüssel und marschierte entschlossen aus der Tür. Ein schlechtes Gewissen plagte sie sowieso, doch ihre schönen High Heels sollten nicht darunter leiden.
Violetts Schritte verloren bereits an Sicherheit, als sie die Straße vor ihrer Haustür betrat. Sie fühlte eine starke innere Anspannung. Wie sollte sie sich ihren Mitmenschen zeigen? So, wie sie war? Innerlich von Zweifeln und Vorwürfen zerfressen? Sie spürte in ihren Schuhen plötzlich nicht mehr denselben Halt wie noch einige Tage zuvor, als sie eine Schuhverkäuferin an der Hauptschlagader von Westshire, der Fußgängerzone, glücklich gemacht hatte. Entlang der Fußgängerzone befanden sich einige Geschäfte. Violetts Mund wurde trocken, als sie an die Schneiderei ihrer Mutter dachte, die im Vergleich zu den anderen Geschäften zwar etwas außerhalb lag, aber dennoch gut zu finden war. In einem kleinen Dorf wie Westshire war sowieso alles nur wenige Schritte entfernt. Unvermittelt breitete sich in Violett neben der Trauer, die sie empfand, eine Empfindung aus, die sie schon als Kind ausgezeichnet hatte: Neugier.
Ob der Pfarrer etwas über die Herkunft ihrer Mutter erfahren hatte? Sie wunderte sich, dass in der Handtasche ihrer Mutter, die der Pfarrer sicherlich zur Verwahrung an sich genommen hatte, nicht ihre Ausweispapiere gewesen waren. Laura musste doch ihren Pass bei sich getragen haben. Denn die Papiere befanden sich, zumindest ihrem Wissen nach, auch nicht in der Wohnung. Violetts Schritte wurden wieder schneller. Um diese Uhrzeit herrschte auf den Straßen noch nicht allzu viel Betrieb. Als sie die Fußgängerzone erreichte, liefen ihr lediglich ein paar Leute über den Weg, die sie zwar kannte, mit denen sie über einen Gruß aber nie hinausgekommen war. Sie erkannte Mrs. Bridges, eine Rentnerin, die ihre Zeit am liebsten im Blumengeschäft zubrachte und die Existenz des Lädchens und deren Inhaberin, Mrs. Donaldson, sicherte. Violett überlegte, dass sie all die Blumen sicherlich nicht nur für ihren Garten oder die Verschönerung ihrer Wohnung verwendete. Gewiss schmückte sie mit ihnen auch das Grab ihres Mannes Alexander, der vor zehn Jahren gestorben war. Als sie Violetts Blick traf, lief Mrs. Bridges, so schnell es in ihrem Alter eben möglich war, auf sie zu.
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