»Bewahren Sie die Tasche meiner Mutter auf?«, fragte Violett.
»Die Behörden haben sie an sich genommen, obgleich keinerlei Papiere darin waren. Ich denke aber, dass Sie die Tasche in einigen Tagen werden abholen können. Denn schließlich werden die Beamten aller Voraussicht nach keine weiteren Nachforschungen anstellen.«
Violett verließ das Pfarrhaus mit dem Gefühl, eine Spur verfolgen zu können, die sie am Ende vielleicht zu einer Antwort auf all die ungelösten Fragen führen würde. Ihr Herz pochte so heftig, als wäre es durch diesen Lichtblick zu neuem Leben erweckt worden. Eine Reanimation, die eine einfache Nachricht ausgelöst hatte: Sie hatte die Möglichkeit, ihren Vater zu finden. Und selbst wenn er, wie Violett schon als Fünfjährige aus Lauras Erzählung geschlossen hatte, nicht mehr unter den Lebenden weilte, würde die Gewissheit, seinen Namen zu tragen, sein kaltes Grab nicht mehr ganz so trostlos erscheinen lassen. Im Gegenteil. Denn Violett war sich sicher, dass sie es als Verknüpfungspunkt zwischen ihrer eigenen Seele, der von Laura und natürlich der ihres Vaters verstehen würde. Auch wenn sie nur noch im Geiste als Familie vereint wären, weil ihnen die Umstände des Schicksals die Chance auf ein gemeinsames Leben genommen hatten, so glaubte Violett dennoch, dass sie eine innere Einheit spüren würde, nach der sie sich ihr ganzes Leben gesehnt hatte. Dass Laura ihr nur so wenig von ihrem Vater erzählt hatte, ließ darauf schließen, dass sein Tod sie unsagbar verletzt hatte.
Der Gedanke, dass Laura ihr den Vater bewusst vorenthalten hatte, als dieser noch lebte, schien ihr unerträglich. Denn hatte sie nicht angedeutet, er hätte nicht das Geld gehabt, sie zu ernähren? Ein Gefühl von Wut brandete in ihr auf. Hatte Laura aus falschem Stolz die Tür zu ihrem alten Leben für immer zugeschlagen? Hatte sie Violetts Vater nicht das Gefühl geben wollen, für sie aufkommen zu müssen? Violett musste diese Gedanken verdrängen, um nicht verrückt zu werden. Nein, Laura hätte ihr das bei all der Geheimniskrämerei sicher nicht angetan. Nicht ihrer geliebten Tochter …
Als sie ihre Wohnung betrat, wurde Violett bewusst, dass ihr dieses Gedankenspiel eine Menge Kraft geraubt hatte, die sie doch gerade jetzt so dringend brauchte.
Sie sah auf die Uhr und registrierte, dass die Mittagszeit schon vorüber war. Aus den Toastscheiben, die noch in ihrem Brotkasten lagen, machte sie sich ein kleines Sandwich, das sie mit all dem, was ihr im Kühlschrank in die Hände fiel, recht wahllos belegte. Gedankenverloren strich sie Butter und Ahornsirup auf die Toastscheiben, bevor sie sie zum Abschluss noch mit ein wenig Käse garnierte. Sie brachte das Sandwich aber nicht nur wegen seiner merkwürdigen Zusammenstellung nur schwer hinunter. Die Freude darüber, unter Umständen ihre wahren Wurzeln zu finden, und die Angst davor, eine Wahrheit zu erfahren, die sie nicht ertragen konnte, hatten in ihr einen großen inneren Widerstreit entfacht, der sich wie ein starkes Feuer anfühlte.
Heute musste sie ihre Schicht im Café zum Glück erst am Abend antreten, obwohl dort Hochbetrieb herrschen dürfte.
Violett beschloss, so bald wie möglich den Bus nach Sunderfield, die nächstgrößere Stadt, zu nehmen, wo es ein Internetcafé gab. Sie selbst besaß nämlich leider keinen Computer mit Internetzugang. Sie hatte die Hoffnung, dass ihr Vater irgendeine Spur im Netz hinterlassen haben könnte. Denn man sagte bekanntlich oft, dass das Internet alles wusste. Aber galt das auch für einen Menschen, der vor gut einundzwanzig Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach noch gelebt hatte, sich jedoch nicht durch eine besondere Leistung hervorgetan hatte? Schließlich kannte sie nicht einmal den Beruf ihres Vaters. Wenn er zum Zeitpunkt von Lauras Schwangerschaft tatsächlich nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung gehabt hatte, konnte er wie sie einer einfachen Tätigkeit nachgegangen sein oder im besten Fall in einem Studium gesteckt haben. In dem Fall wäre ein Erfolg ihrer Suche um einiges wahrscheinlicher. Mit diesen Gedanken setzte sie sich vor ihren alten Fernseher, den viele wohl eher in einem Museum vermuten würden. Violett wusste zwar, dass auf BBC im Moment die Nachrichten liefen, schaltete ihn aber dennoch ein, obwohl sie in ihrer Verfassung eigentlich keine Katastrophenmeldungen gebrauchen konnte.
Eine der ersten Nachrichten, die über den Sender gingen, betraf den Tod eines Mannes und seiner Frau, die ein weltweites Brauereiimperium begründet hatten und zu den bekanntesten Gesichtern Großbritanniens zählten: Michael und Lydia Evans. Beide waren in Frankreich auf der Hauptstraße nach Mandlieu – eine malerische Stadt in der Provence – tödlich verunglückt. Dort verbrachten sie den Meldungen zufolge in einem großen romantischen Feriendomizil ihren alljährlichen Urlaub. Das Anwesen erstreckte sich über mehrere Tausend Hektar und war von zahlreichen Weinbergen umgeben.
Es gehöre aber nicht der Familie, sondern guten Freunden der Evansʼ, hieß es in den Nachrichten weiter.
Aus ihr vollkommen unerklärlichen Gründen überkam Violett ein beklemmendes Gefühl, als sie die Bilder des Ehepaares und ihres verunglückten Wagens sah. Auf merkwürdige Art und Weise fühlte sie eine innere Verbundenheit mit Michael und Lydia Evans. Aber warum? Sie kannte die beiden doch überhaupt nicht. Vielleicht hatte sie in irgendeiner Zeitung schon einmal von ihnen gelesen, aber das konnte doch noch keine emotionale Bindung zu ihnen herstellen. Sie erinnerte sich auch nicht daran, zuvor schon einmal ein Foto von den beiden gesehen zu haben. Violett sank auf ihrer Couch merklich in sich zusammen. Mit einem Mal verfolgte sie den Fernsehbericht wie gebannt. Sie konnte ihre Augen kaum mehr von den schrecklichen Bildern lösen, die das verunglückte Auto sowie Michael und Lydia Evans in ihrer Brauerei oder auf gesellschaftlichen Anlässen zeigten. Die außergewöhnliche Anziehung, die die Evansʼ auf sie ausübten, konnte doch kaum an ihrer wirtschaftlichen Macht und dem damit einhergehenden Prestige liegen.
Es wurde weiter berichtet, dass sich die »großen Evansʼ«, wie sie von ihren Landsleuten liebevoll genannt wurden, schon vor längerer Zeit aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatten. Die Führung des Betriebs hatten sie vor zwei Jahrzehnten an ihre Tochter Sadie und deren Mann, Sam Miller, übergeben. Dieser entstammte einer großen amerikanischen Brauereidynastie, mit der die Evansʼ Anfang der Neunzigerjahre fusioniert und so die weltweite Marktführung übernommen hatten. Ihre Biermarke »Silverline« wurde daraufhin weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Wie ein Prinzenpaar hatten sie die Brauerei sowohl nach innen als auch außen repräsentiert. Gut neunzehn Jahre später hatten sie das Zepter aus persönlichen Gründen an ihre drei Kinder, John, Jason und Emily, weitergereicht, die die Brauerei seither ebenso wie das Unternehmen »Evanʼs Inc.« überaus erfolgreich weiterführten. Vor allem John und Jason wurden eine ausgeprägte unternehmerische Weitsicht und ein überaus großes Geschick nachgesagt, mit deren Hilfe sie ihre Biermarke, die von den Briten nur »Silver« genannt wurde, auch auf neuen Märkten erfolgreich platzieren konnten.
Nun ging es um die Aufteilung eines Erbes von geschätzt gut hundert Millionen britischen Pfund – Vermögenswerte, auf die außer Michael und Lydia Evans selbst bisher kein Familienmitglied hatte zugreifen können. Die Brauerei war aufgrund ihres sich täglich verändernden Wertes nicht in der Erbmasse enthalten, würde jedoch sicher in den Händen der Familie bleiben, die in Zukunft allenfalls einzelne Unternehmensteile outsourcen würde, um die Kosten zu senken. Das hatte der »große Evans« bisher weniger aus den unternehmerischen als aus den ethischen Grundsätzen seiner Firmenpolitik nicht zugelassen und kategorisch abgelehnt. Diese Maxime mussten sowohl Sadie und Sam als auch seine Enkelkinder bisher beherzigen. Die meisten Kenner der Familie und der Großteil der Journalisten gingen davon aus, dass Sadie Evans zugunsten ihrer Kinder, die die Geschicke der Brauerei bereits lenkten, auf das Erbe verzichten werde. Der Nachrichtensprecher sagte im selben Atemzug, es sei bereits der dritte große Schicksalsschlag, den die Evansʼ zu verkraften hätten. Als läge über dieser Familie, deren Mitglieder doch stets ein skandalfreies und vorbildliches Leben geführt hatten, ein Fluch. Ihre Tochter Laura war im Alter von vierundzwanzig Jahren völlig unerwartet an Nierenversagen gestorben, und Sadies Ehemann Sam war von einer Bergtour im Himalaja vor gut vier Jahren nicht wieder zurückgekehrt. Nun mussten die krisenerschütterte und -erprobte Sadie und ihre Kinder erneut große Stärke beweisen und in dieser schwierigen Zeit als Familie eng zusammenstehen.
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