Schoppi bat sie herein, und nach einer kurzen Begrüßung erteilte er Ehepaar Kampfeld das Wort. Während der Vater loslegte, blickte seine Frau zu Boden. Das irritierte Jenny. Bisher hatte sie Patricias Mutter als fröhliche, selbstbewusste Frau kennen gelernt. Vermutlich war ihr Mann nie dabei gewesen. „Das Problem, Frau Stila, ist, dass sich unsere Tochter seit einiger Zeit von Ihnen vorgeführt und ungerecht behandelt fühlt.“ Jenny schoss das Blut in die Wangen, sie konnte nichts dagegen tun. Als ob sie Schüler vorführen würde. Jenny Stila, die sich für Mobbingopfer einsetzte, weil sie ganz genau wusste, wie es war, nicht dazuzugehören. Die jede Klassenleiterstunde für Gespräche und Spiele nutzte, durch die sich das Klassenklima verbesserte. Sie war doch nun wirklich die Letzte auf diesem Planeten, die Schüler quälte. Herr Kampfeld fuhr fort. „Sie haben wohl gestern eine neue Sitzordnung eingeführt, und Patricia ist das einzige Mädchen, das allein sitzt. Wohl nicht ganz allein, Sie haben ja jetzt Gruppentische, aber sie hat zumindest niemanden direkt neben sich sitzen. Des weiteren haben Sie wohl von drei Schülern, auch unserer Tochter, die Hausaufgaben eingefordert und vor versammelter Mannschaft besprochen. Sie wissen ja sicherlich, dass Patricia ein großes Problem mit der Rechtschreibung hat, so dass sie so natürlich der Häme ihrer Klassenkameraden ausgeliefert war. Verstehen Sie uns nicht falsch", fügte er mit einem kurzen Seitenblick auf seine Frau hinzu, deren Blick immer noch am Boden festzukleben schien, „wir sind hier, um das zu klären. Bisher war Patricia sehr zufrieden mit Ihnen, umso enttäuschter ist sie jetzt. Und da ich schon oft in der Grundschule Lehrer erlebt habe, die langsamere oder leistungsschwächere Kinder einfach fertig machen, möchte ich dem rechtzeitig entgegenwirken, bevor Patricia sowas erneut durchmachen muss.“ Schoppi nickte und gab das Wort an Jenny weiter. Sie hatte die ganze Zeit Patricia beobachtet, und das Kind tat ihr furchtbar Leid. Musste das peinlich sein. Vermutlich war sie gestern wirklich etwas traurig gewesen und hatte davon zuhause erzählt. Statt sie zu beruhigen, war der Herr Papa dann sofort losgepoltert, statt erstmal die Lehrerin anzurufen, um zu erfahren, wie sich die ganze Sache aus Jennys Sicht verhielt. Sie versuchte ruhig zu bleiben, hatte Mühe, ihren Frust zu kontrollieren. „Gut, kommen wir zunächst mal zur Sitzordnung.“ Jenny hielt das Planungsblatt aus ihrer Agenda hoch mit 27 Namen und hunderten von Pfeilen in verschiedenen Farben. „Den Plan hier habe ich angefertigt, um möglichst alle Schüler zufrieden zu stellen“, erläuterte sie mit leicht zitternder Stimme. „Ich saß sehr lange dran und habe mich am Schluss gefreut, eine Lösung gefunden zu haben, die gewährleistet, dass niemand mit jemandem an einem Tisch sitzen muss, den er gar nicht mag, und dass jeder mindestens neben einem Freund sitzen kann. Und an einem Gruppentisch“, sie wandte sich nun lächelnd an Patricia, „zählt für mich auch „über Eck“ zu „nebeneinander“. Das hat doch mit allein setzen oder benachteiligen nichts zu tun? Amrei sitzt direkt neben dir, ihr könnt miteinander quatschen, zusammen arbeiten und euch eure Stifte teilen, also wenn ich jetzt auch noch anfangen soll, jedem seinen Lieblingsplatz zu geben, dann komme ich nicht mehr zum Unterrichten, Patricia“, wurde Jenny am Schluss doch etwas laut. Das Mädchen nickte.
Jenny mahnte sich zur Ruhe. „Jetzt zu den Hausaufgaben.“ Sie blickte Patricias Vater kampfbereit in die Augen. „Erstens ist Patricia für mich ganz sicher nicht „die Schlechteste der Klasse“, wie kommen Sie darauf? Die Arbeiten waren alle gut oder befriedigend, mündlich steht sie ähnlich. Außerdem finde ich, dass es den Lerneffekt steigert, wenn wir die eigenen Schülertexte korrigieren und nicht fremde aus dem Lehrbuch. Natürlich hätte ich fragen können, aber mir war wirklich nicht klar, dass das für Patricia so ein Problem darstellt. Darüber hinaus hatte sie wenige Fehler, und als diese blöde Bemerkung von Ruben kam“, wandte sie sich an Patricia, „kannst du dich sicher noch daran erinnern, dass ich ihn ganz schön zurecht gewiesen habe.“ Jenny sah Herrn Kampfeld erneut direkt in die Augen. „Es liegt mir völlig fern, Schüler vorzuführen oder absichtlich zu benachteiligen. Sollte der Eindruck entstanden sein, tut es mir sehr Leid, lag aber wirklich nicht in meiner Absicht. Und in Zukunft würde ich mich freuen, wenn Sie bei solchen Problemen direkt zu mir kämen oder, noch besser, Patricia, du das Vertrauen hättest, mir das selbst zu sagen. Ich reiße wirklich niemandem den Kopf ab, der sich falsch behandelt fühlt. Aber verbessern kann man eine Situation nur, wenn man sie anspricht.“ „Danke, Frau Stila,“ wurde sie von Schoppi unterbrochen, „dem kann ich mich natürlich nur anschließen. Wenn erstmal solch ein Missverständnis entsteht, kann es schnell passieren, dass man auch viele andere Dinge falsch interpretiert“, er strahlte die Eltern gewinnend an, „und Frau Stila hat, denke ich, zum Ausdruck gebracht, dass ihr die ganze Angelegenheit außerordentlich Leid tut.“ Alle standen auf und verabschiedeten sich, auch Herr Kampfeld gab Jenny die Hand. Schoppi ließ sich sogar dazu herab, seiner Mitarbeiterin viel Erfolg bei ihren Proben zu wünschen. Vermutlich war heute sein „Ein Herz für Lehrer“- Tag. Als Jenny zurück ins Lehrerzimmer ging, fragte sie sich, warum sie sich trotzdem so unwohl fühlte. Sie hätte es weitaus besser gefunden, wenn Schoppi ihr „Leidtun“ weniger betont hätte. Sie bereute ja nicht ihr Handeln an sich, sondern den Eindruck, der dadurch entstanden war. Und wenn Schoppi die Eltern dann noch freundlich darauf hingewiesen hätte, dass es die feinere Art ist, direkt mit dem Klassenlehrer zu sprechen, statt ihn gleich vor den Direx zu zerren, hätte sie sich auch nicht beschwert.
Jenny atmete tief durch. Patricia machte sie überhaupt keinen Vorwurf und nahm sich fest vor, ihr das im Unterricht zu zeigen, auch wenn das alles andere als leicht werden dürfte. War sie besonders nett, stand zu befürchten, dass Patricia ein schlechtes Gewissen dahinter vermutete und sie nicht mehr ernst nehmen würde. War sie streng, musste sie sofort wieder Angst haben, dass bei Patricia oder bei ihren Eltern eine falsche Botschaft ankam. Sie beschloss, das alles zu vergessen und sich so normal wie möglich zu benehmen.
Dementsprechend fühlte sie sich in den folgenden Tagen in ihrer Klasse recht unsicher. Rubens zunehmend aufsässiges Verhalten war da auch nicht besonders hilfreich. Der Junge, der Patricia Kampfeld so sehr verunsichert hatte, entwickelte sich langsam zu einer echten Nervensäge. Papa Lichter war Pfarrer, Mama Lichter gab Seminare zum Thema Lebensgestaltung. Man hätte also meinen können, er sei ein besonders ausgeglichenes und soziales Wesen. Weit gefehlt. Der Junge war sehr klug, keine Frage, besaß für seine elf Jahre eine beeindruckende Allgemeinbildung, besonders, was Erdkunde und Geschichte betraf, schrieb hervorragende Aufsätze und stand in fast jedem Fach 1. Aber er ließ auch jeden wissen, wie begabt und intelligent er war. Und die Freunde, die er mit Humor und Abenteuerlust leicht gewann, verprellte er schnell durch seine besserwisserische Art. Ruben wusste nie, wann es Zeit war, den Mund zu halten. Heute war er mal wieder in Bestform. Nachdem er zum dritten Mal einen abschätzigen Kommentar in die Klasse hineingerufen hatte, reichte es Jenny. „Ruben, wenn du dich melden möchtest, hebst du deinen Finger wie alle anderen in der Klasse auch!“ - „Aber ich hab mich doch die ganze Zeit gemeldet, und Sie nehmen mich nicht dran!“, erwiderte er ungerührt. Jenny hob die Braue. „Woran könnte das liegen. Vielleicht daran, dass sich auch neun andere gemeldet haben, die ein Recht darauf besitzen, aufgerufen zu werden?“ - „Aber mich haben Sie nicht drangenommen.“ „Ruben, jetzt halt doch mal die Klappe“, zischte ihm sein Tischnachbar zu. Jenny nickte und versuchte ihn bei seiner Ehre und seinem logischen Denkvermögen zu packen. „Ruben. Überleg mal. Wir haben 45 Minuten Unterricht, ihr seid 27 Schüler. Wenn man die Stillarbeit oder Gruppenarbeit sowie meine Vorträge abzieht, bleiben vielleicht 20 Minuten übrig, das heißt, jeder Schüler hätte ein, zweimal die Gelegenheit, drangenommen zu werden. Und ich möchte jedem dazu die Chance geben. Das heißt, dass ich eben manchmal zuerst die aufrufe, die sich sonst weniger beteiligen.“ Ruben überlegte. „Das heißt, wenn ich zweimal was gesagt habe, brauche ich mich für den Rest der Stunde nicht mehr melden, weil ich eh keine Chance habe?“ Die eine Hälfte der Klasse lachte, die andere stöhnte, und Patricia hob geringschätzig die linke Augenbraue. Jenny musste sich das Grinsen verkneifen. Sie hatte ihn mit Logik packen wollen und eine absolut logische Antwort erhalten. "Nein, Ruben. Denn auch wenn ich dich nur zweimal zu Wort kommen lasse, merke ich mir trotzdem, ob du dich nur zweimal, oder zwanzig Mal gemeldet hast.“ „Okay“, sagte er zustimmend, „damit kann ich leben.“ Jennys Blick huschte zu Patricia, doch die war mit ihren Stiften beschäftigt.
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