Herausgegeben von Gabrielle Cody
Aus dem Englischen
von Conny Lösch
Edition Nautilus
Editorische Notiz:Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien 2001 bei The Continuum International Publishing Group New York / London unter dem Titel Hardcore from the Heart. The Pleasures, Profits and Politics of Sex in Performance.
Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Alte Holstenstraße 22 · D-21031 Hamburg © 2001 by Annie Sprinkle und Gabrielle Cody © für die deutsche Ausgabe Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg 2003 Umschlaggestaltung: Maja Bechert Foto: © Eric Kroll, www.fetish-usa.com1. Auflage 2004 www.edition-nautilus.de
1 2 3 4 5 · 08 07 06 05 04
ISBN 3-89401-444-X
Heilige dicke Riesentitten Von Gabrielle Cody
AKTIONEN, RITUALE, PERFORMANCES
Strip Speak: Schwester Sprinkles Sex-Unterricht
Metamorphosexuelles Schlammbadritual: Eine private Performance
MetamorphoSex
Frieden im Bett
Liberty Love Boat
Annie Sprinkles »Herstory of Porn«
PORNOGRAPHOS: SCHRIFTEN EINER PROSTITUIERTEN
Meine zärtlichen Zusammenstöße mit dem Gesetz
Du bist einen weiten Weg gekommen: Zwölf Schritte zur Heilung von Burnout bei Sexarbeiterinnen
INTERVIEWS: EIN BEWEGLICHER FEIERTAG
Annies Frühstück mit Veronica Vera: Die Kunst der Sexarbeit
Lunch im Art/Life Institute: Eine Unterhaltung mit Linda M. Montano, Barbara Carrellas und Gabrielle Cody
Essen mit Richard Schechner und Gabrielle Cody: Sie wollte ein besseres Leben
Annies Dessert mit Mae Tyme, einer Feministin aus der Anti-Porno-Bewegung
Gabrielles Mitternachtsimbiß mit Monika Treut
OUTRO
Ooouuuhhh, Frau Professor, ich liebe es, wenn Sie so akademisch sind Nachwort von Rebecca Schneider
Danksagungen
Ausgewählte Performances, Filmografie und Bibliografie
In liebevoller Erinnerung an Lynda Lee Hart (1953-2000)
»Brich dein Herz nicht länger. Jedesmal wenn du dich richtest, brichst du dir dein Herz. Du nährst dich nicht mehr von der Liebe, die der Quell deiner Lebenskraft ist. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, deine Zeit, zu leben, zu feiern und die Güte, die du bist, zu erkennen. In dir ist nichts Falsches und auch in niemandem sonst. Es gibt nur den Gedanken daran und der Gedanke hat keine Substanz. Du bist wertvoll, göttlich und sehr sehr rein. Erlaube niemandem, nichts, keinem Ideal und keiner Idee, dir im Wege zu stehen. Wenn einer kommt, selbst im Namen der Wahrheit, vergib dem Gedanken, denn er ist unwissend. Kämpfe nicht dagegen an, laß los und atme die Güte, die du bist.«
Kirpal Venanji
Heilige dicke Riesentitten
Von Gabrielle Cody
»Man kann einen Gebärmutterhals nicht entmystifizieren.«
Annie Sprinkle
»Als Performance-Künstlerinnen haben Prostituierte nicht nur die Grenzen der akademischen und nicht-akademischen Öffentlichkeit gesprengt, indem sie das Pornografische und das Karnevaleske in diese Bereiche trugen, sondern sie haben damit auch eine neue soziale Identität hervorgebracht – die Prostituierte als sexuelle Heilerin, Göttin, Lehrerin, politische Aktivistin und Feministin – eine soziale Identität, deren Genealogie bis zur heiligen Prostituierten aus alter Zeit zurückverfolgt werden kann.«
Shannon Bell
Als kleines Mädchen lebte ich mit meinen Eltern im MaraisViertel in Paris. Die Straße, in der wir wohnten, die Rue des Rosiers, war berühmt. Eine Art inoffizielles Mahnmal für tausende von Juden, die während der Besatzung deportiert wurden, die man mitten in der Nacht, verraten von ihren nicht-jüdischen Nachbarn, ihrem Zuhause entriß. Inzwischen aber – abgesehen von den Goldenbergs an der Ecke und dem Tempel an der Rue Malar – säumten pikant duftende türkische Bäckereien und kleine, von Algeriern geführte Obstläden die Straßen des Viertels. Zufällig war die Rue des Rosiers auch eine beliebte Durchgangsstraße für die Damen der Nacht, die in den frühen Morgenstunden mit einem oder zwei Baguettes unter dem Arm von der Arbeit nach Hause gingen.
In meiner dunkelblauen Uniform, mit meinen blonden Zöpfen, die unter einem dicken Mantelkragen hervorlugten, und meiner vollgestopften Schultasche auf dem Rücken wurde ich auf meinem täglichen Weg zur Metrostation St. Antoine zu einem unauffälligen Teil des morgendlichen Treibens. Das kleine katholische Mädchen hatte nun, besonders an grauen Wintermorgen, die Aufgabe, möglichst unsichtbar, dafür aber schnurstracks auf die sicheren, warmen, rauchigen Treppenstufen der Metrostation zuzugehen und die Sticheleien der aus dem gesamten Maghreb nach Frankreich ausgewanderten Straßenkehrer zu ignorieren. Wenn sie nicht gerade die Rinnsteine der Stadt sauber hielten, lebten diese Männer, die seit Jahren von ihren Familien getrennt waren, dicht gedrängt wie die Sardinen unter den Wellblechdächern der Bidonvilles, den Elendsquartieren rund um Paris.
An einem solchen Morgen hörte einer dieser Männer auf zu fegen. Er sah mich durchdringend an und grabschte mir unbeholfen an die noch ungeformten, uniformierten Brüste. Genau in dem Augenblick mischte sich eine Frau ein. Sie sprach sehr ruhig. Sie erklärte dem Mann, daß sie für so etwas zuständig sei. Araber oder nicht, Jude oder nicht, arm oder nicht, sie sei dafür zuständig, und er solle das Mädchen in Ruhe lassen. War denn nichts heilig? Sie nahm meine Hand und brachte mich zur Metrostation. Das war meine erste Begegnung mit der Ethik der Prostitution. Für mich, die ich auf dem Weg in die Klosterschule war.
Jahre später hörte ich an einer amerikanischen Universität etwas über eine Aktivistin und Sex-Arbeiterin, die Performancekünstlerin geworden war, Leute aufforderte, mit einer Taschenlampe ihren Gebärmutterhals zu betrachten und die »Post-Porno«-Spaßpostkarten verkaufte. Ich gestehe, daß ich mich sofort an die Frau erinnerte, die sich für mich eingesetzt und den armen Straßenkehrer halb zu Tode erschreckt hatte.
Aber irgendwie schämte ich mich auch dafür, daß ich so viele Jahre lang das Klischee der »Nutte mit dem goldenen Herzen« als liebste Kindheitserinnerung mit mir herumgetragen hatte. Bis ich Annie Sprinkle traf.
Читать дальше