„Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten als ein Vorurteil“
Kapitel 1
„Lehrer haben vormittags Recht und nachmittags frei.“
Dann würden sie wohl vormittags Lotto spielen und nachmittags shoppen gehen.
Jenny Stila
20 Jahre zuvor
Sie starrte auf die Tafel, unfähig, zu begreifen, was Herr Blaschke ihnen da zu erklären versuchte. Die Wörter „Mathe“ und „Hölle“ hatten Jennys Meinung nach nicht umsonst soviel gemeinsam: Fünf Buchstaben, ein "e" am Ende, beides brachte sie ins Schwitzen. Ihre Mitschülerinnen Nadine und Andrea rollten mit den Augen, sie rollte mit und grinste, doch Andrea sah genervt zur Seite und Nadine blickte Jenny so irritiert an, als wollte sie fragen 'was willst du von uns?'
Als es nach dem erlösenden Klingeln raus in die Pause ging, eilten alle lachend und schwatzend an dem pummeligen kleinen Mädchen in Mamis Strickpullover vorbei und bezogen ihre Grüppchenplätze draußen. Die stylishe Mädelsclique neben dem Eingang zum Quatschen über Jungs, die sportliche drüben am Spielplatz, zum Gummitwist. Jenny versuchte sich unauffällig Richtung Sekretariat durchzuschlagen. Sie hatte dort zwar nichts zu tun, aber so bekam sie wenigstens die zehn Minuten Pause rum, ohne dass sie eine Aufsicht mitleidig fragen würde, warum sie denn alleine auf dem Hof herumstehe. Nicht, dass sie das gern tat. Sie hätte viel lieber zu einem der Mädchentrupps gehört, aber sie wollten Jenny nicht dabei haben. Warum, blieb ihr schleierhaft. Gut, sie stand eher auf klassische Musik als auf Pop, hatte keine Ahnung, wer gerade angesagt war, trug nicht die neuesten Klamotten der hippen Marken, aber sie verstand nicht, warum das den anderen reichte, um sie abzulehnen. Jedenfalls war Jenny zu schüchtern, um zu fragen.
Auf dem Heimweg schaute sie noch im kleinen Kiosk vorbei, um sich für ihren gemütlichen Lesenachmittag mit Süßigkeiten einzudecken, dann bummelte sie nach Hause. In ihr Refugium. Dorthin, wo sie geliebt wurde, wie sie war. Meistens jedenfalls. Mama oder "Mams", wie sie von ihren Kindern genannt wurde, hatte das Hühnerfrikassee fertig, und Bruder und Oberprimaner Kai (kein Mensch verwendete heute noch die Bezeichnung "Oberprimaner" für einen Schüler der 13. Klasse, aber Jenny war ein großer 'Nesthäkchen'-Fan und neidisch auf Annemaries großen Bruder Hans, der immer so nett zu seiner kleinen Schwester war), hatte schon um zwölf Uhr Unterrichtsschluss gehabt. Papa bekam im Himmel vermutlich Hühnerleber mit Zwiebeln. „Hallo, mein Schatz“, begrüßte Mams ihre Jüngste fröhlich, "alles okay in der Schule?“ Jenny nickte, damit bloß keiner nachfragte. Kai sah die Papiertüte vom Kiosk aus der Tasche lugen und meinte: „Bist du sicher, dass du noch mehr Kilos auf den Hüften vertragen kannst?“ Rot bis unter die Haarwurzeln entriss Jenny ihm die verräterisch knisternde Tüte und stopfte sie zurück. „Aber erst nach dem Mittagessen!“, wies Mams sie zurecht. Sie hätte ihr die Tüte sicher abgenommen, wenn sie gesehen hätte, wie groß und prall gefüllt sie war. "Außerdem wird gleich dein Zimmer aufgeräumt. Wie kann man nur so schlampig sein, ich weiß gar nicht, von wem du das hast!", wunderte sich ihre Mutter kopfschüttelnd. "Mams!", rief Jenny. "Ich weiß, ich mach das noch. Ich bin halt nicht so ein Ordnungsengel. Irgendwie passiert das mit dem Chaos immer ganz von allein." Mams hielt inne und sah ihre Tochter streng an. "Du musst an dir arbeiten. Jeder kann das lernen, man muss es nur wollen." Jenny sagte nichts. Was war nur falsch an ihr? Barbara aus ihrer Klasse hatte neulich noch getönt, wie chaotisch sie war, aber dass sie das von ihrer Mutter hätte, und nie Ärger deswegen bekäme. Mühlschreibers waren eben so. Aber bei Jenny war es anscheinend ein Charakterfehler. Sie schien aus sehr vielen Fehlern zu bestehen. Sie war nicht ordentlich genug (Mams), nicht sportlich genug (Kai), nicht cool genug (Mitschüler). Nur schreiben, das konnte sie. „Ich hab in Deutsch eine 1-!“, verkündete Jenny stolz. Kai nickte unbeeindruckt. „Aber nicht abheben, junge Dame. Schön weiter lernen.“ „Ich freu mich so!“, lächelte Mams liebevoll. „Du bist eben eine Deutschkanone, so wie ich früher. Nur viel hübscher und klüger.“ Jenny schnaubte innerlich. Ihre Mutter hatte ja keine Ahnung. Die Klasse war da sicher anderer Meinung. „Mathe sollte sie können“, brummte Kai, „das ist viel wichtiger im Leben als Schwafeln.“ „Kommt drauf an, in welchem Beruf", entgegnete Jenny. Kai musterte sie. „Du willst ja wohl nicht Lehrerin werden“, knurrte er.
Schule? Bis ans Ende ihrer Tage?
Nie im Leben.
Heute
An einem ihrer letzten Osterferientage hatte Jenny Stila, 31 Jahre alt, Studienrätin für Deutsch und Latein, es noch einmal mit einem Date versuchen wollen. Auf "Love for Eternity - Singlebörse für Anspruchsvolle" hatte sie sich vor einigen Monaten angemeldet, nachdem ihr Ex und bester Freund Armin davon geschwärmt hatte. Das Ergebnis waren bisher zwei nette, vier unspektakuläre und ein sehr verstörendes Date gewesen, das sie eine Weile von LFE ferngehalten hatte. Im Internet hatte 'Paul' sich als 'fröhlichen Papieringenieur' bezeichnet. Während des Treffens hatte er dann Hochzeitspläne mit ihr schmieden wollen. Eine seiner fröhlichen Ideen war dabei, dass sie als Lehrerin ja quasi das Papier verwenden würde, das er herstellte. Bildlich natürlich, aber doch ungemein romantisch, oder? Sie hatte sich nur dadurch retten können, dass sie Armin auf der Toilette angerufen und herbeizitiert hatte. Der da hatte dann den eifersüchtigen Ex so überzeugend gemimt, dass 'Papierpaul', wie Jenny ihn seither nannte, panisch die Flucht ergriffen hatte. Und jetzt saß sie hier wieder mit einem Vertreter der Papierindustrie. Redakteur Ben. Jenny verlor sofort jedes Interesse an ihrem Gesprächspartner, wenn dieser nur um sich selbst kreiste. Hallo? Sie waren doch hier, um sich kennen zu lernen, und nicht in einer Castingshow. Geistesabwesend ließ Jenny ihren Blick durch das kleine Restaurant kreisen, in dem sie sich bisher mit allen ihren Dates verabredet hatte. Von hier aus hatte sie es nicht weit bis nach Hause. Wirt Pino hatte nach ihrer vierten Verabredung angefangen, sie anzuzwinkern und den Daumen hoch- oder runter zu halten, je nachdem, ob er ihre Verabredung für vielversprechend hielt oder nicht. Das war ihr ein bisschen peinlich. Zumal er sie heute, als sie mit Ben hier aufgetaucht war, mit den Worten "Platz wie immer am Fenster?" begrüßt hatte. Der fröhliche Wirt hatte es sicherlich gut gemeint und wollte ihr seine Aufmerksamkeit beweisen, doch sie mochte ihren Dates nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie fast wöchentlich jemand anderes anschleppte.
So lief das eben auf einer Internet-Datingplattform. Zumindest, wenn man ernsthaft nach einem Partner suchte und nicht nur nach einem Abenteuer fürs Bett. Man lernte sich per mails kennen, fand sich interessant und traf sich. Aber dann stellte man in der Regel entweder Enttäuschung oder höchstens Sympathie fest. Jetzt saß sie hier mit Ben. Und flirtete mit Pino. Pino war toll. Ein immer strahlender, in sich ruhender runder kleiner Mexikaner mit italienischen Wurzeln, Halbglatze und einer fröhlichen Frau mit zwei bezaubernden Töchtern. Pinos Daumen zeigten beide nach unten. Jenny seufzte. "...das ist natürlich ein Wahnsinnsauftrag, nicht jeder zieht sowas an Land..." Jenny dachte wehmütig daran, dass bald ihre Osterferien beendet sein würden. "...ich will mich ja nicht selbst loben, aber da macht mir wirklich keiner was vor..." Ihr Blick erstarrte. Das durfte jetzt nicht wahr sein, oder? Ebru und Harkan, das sympathischste und hübscheste Pärchen des Schillergymnasiums und Schüler ihres Lateinkurses, steuerten genau auf ihre Lehrerin zu. "Hallo, Frau Stila, das ist ja cool", röhrte Harkan, und seine schwarze Lederjacke quietschte.
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