Er bot Jenny Platz und Kaffee an. Sie wollte etwas sagen, doch er kam ihr zuvor. „Was war da eben los?“ Nicht, dass Jenny selbst das so genau wusste. Sie versuchte sich zu konzentrieren. „Ich habe Anais Hackman eben dabei ertappt, wie sie eine kleine Schülerin gewürgt und bedroht hat.“ Er runzelte die Stirn. „Wie heißt die andere Schülerin?“ Jenny konnte nur mit den Schultern zucken. „Das weiß ich nicht, ich kenne sie nicht und habe sie nur schräg von der Seite gesehen, es ging alles so schnell, sie ist weggelaufen. Aber das ändert doch nichts-“ Er schnitt ihr mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. „Frau Stila. Natürlich zweifle ich nicht an Ihren Worten, allerdings fällt es mir schwer, Anais Hackman ein solches Verhalten zuzutrauen. Wir kennen sie alle als verantwortungsbewusste und zuverlässige Schülerin. Vermutlich haben Sie da etwas missverstanden. Darüberhinaus wünsche ich nicht, dass an meinem Gymnasium Lehrkräfte in einem solchen Ton mit Schülern reden. Wenn es ein Problem gibt, wird die Situation durch einen ruhigen Umgangston entschärft, um dann alles weitere zu klären. Das muss ich einer ausgebildeten Pädagogin nicht sagen, auch wenn Sie noch sehr jung sind.“ Jenny traute ihren Ohren nicht. Hatte er gerade Anais als verantwortungsbewusst und sie als jung und unerfahren bezeichnet? Er lächelte sie jetzt wesentlich freundlicher an. „So“, rief er geschäftig, „das war nicht der einzige Grund, weshalb ich Sie zu mir gebeten habe- Sie hatten den Wunsch geäußert, mich zu sprechen?“ Ach so. Das. Sie setzte sich gerade und versuchte absolut professionell und seriös zu wirken. Aber sie kam sich vor wie in einer Schmierenkomödie. „Ich wollte Sie nur informieren, dass ich mit meiner Theater-AG am Wettbewerb 'Theater in der Schule' teilnehme.“ Dabei handelte es sich um einen vom Stadttheater jährlich ausgeschriebenen Wettbewerb zwischen Theaterkursen verschiedener Schulen. Dem Gewinner winkten 1000 Euro und ein Auftritt im Theater. Wenn Jennys Truppe gewinnen würde, könnte sie endlich aus Kims Schatten heraustreten und auch eins von Schoppis Zugpferden werden. Bei dem Gedanken musste sie grinsen. In diesem Schuljahr hatten sie sich gemeinsam für „Die Physiker“ entschieden. Das Drama stand auf dem Lehrplan und konnte vielen Mitschülern das Verständnis des Handlungsablaufs näher bringen. Die Theater waren dazu anscheinend nicht mehr fähig. Als Jenny das letzte Mal einen Kurs in "Die Physiker" geschleppt hatte, war die Verwirrung hinterher größer als vorher gewesen. Warum Möbius als Salomo auf einem Nutellaglas saß, das Ganze auf einem riesigen Frühstückstisch spielte und der Inspektor seinen kompletten Text sang, hatte sie den Schülern auch nicht erklären können. Doch zu ihrer Enttäuschung hielt sich Schoppis Begeisterung in Grenzen. „Nun gut. Mit einem Klassiker kann man nicht viel falsch machen. Ihre letzten beiden Aufführungen waren ja auch sehr hübsch. Aber seien Sie vorsichtig: Je bekannter ein Werk, desto öfter haben es die Theaterleute gesehen. Da dürfte es schwierig sein, sie mit etwas Neuem zu beeindrucken. Vielleicht können Sie mit dem Wettbewerb noch ein Jahr warten, und dann auf ein eher modernes, unbekanntes Werk zurückgreifen?“ Jenny seufzte innerlich. Danke für die Aufmunterung. Ihre Aufführungen waren also „hübsch“. Aber sie konnte keinen Rückzieher mehr machen, sie waren bereits angemeldet, und die Schüler freuten sich auf die Teilnahme. Das sah auch Schoppi ein. „Denken Sie daran, mit diesem Wettbewerb vertreten Sie die Schule in der Öffentlichkeit; vergessen Sie nicht, wir haben einen guten Ruf zu verlieren.“ Eigentlich leitete sie Theater-AGs, um Schülern dabei zu helfen, sich zu entfalten, nicht, um Schoppis „guten Ruf“ nach außen zu tragen. Aber das behielt sie für sich.
Ihre Theaterprobe musste sie wegen der Konferenz heute Nachmittag etwas kürzer halten. Sie fuhr schnell nach Hause, um zu essen und sich mental auf die endlosen Diskussionen am Nachmittag einzustellen. Konferenzen bedeuteten wenig Neues, kaum Beschlüsse, dafür Gerede, schlechten Kaffee und haufenweise Schokokekse aus dem Supermarkt.
Als sie um die Ecke hastete und auf die Haustür zusteuerte, stellte Frau Schmidt, ihre freundliche, rundliche kleine Nachbarin, eben ihren Mülleimer nach draußen. "Guten Tag, Frau Stila", strahlte sie. "Schon wieder frei? Hach, Lehrer müsste man sein, das wär ein Leben!" Jenny verbiss sich die Frage, ob Frau Schmidt auch gern bis 22.00 Uhr am Schreibtisch sitzen würde. Die alte Dame wollte ja nur nett sein. Stattdessen lächelte sie nur zurück. Dass sie gleich nochmal in die Schule zurückmusste, behielt sie ebenfalls für sich. Vermutlich würde Frau Schmidt auch noch beglückwünschen, weil sie "einmal im Monat nachmittags zur Arbeit" musste. Ihr kam so dermaßen die Galle hoch, dass sie sich sofort, nachdem sie die Pizza in den Ofen geschoben hatte, ihr Ragebuch ergriff, das sie immer bei sich trug, und voller Eifer mit dem Kugelschreiber über die Seiten fuhr: Ich gebe zu, auch in meiner beschränkten jugendlichen Vorstellung damals arbeiteten Lehrer höchstens von acht bis eins, fuhren nach Hause, und genossen Kuchen im Garten. Dann korrigierten sie vielleicht vor dem Abendessen milde lächelnd ein paar Klassenarbeiten, und setzten sich am Abend noch ein Weilchen in die hauseigene Bibliothek mit Regalen aus dunklem Kirschholz, um einen Blick in die ein oder andere Schullektüre zu werfen. Man hat ja als Kind auch immer gedacht, der Lehrer sei nur für die eigene Klasse da. Mir war immer schleierhaft, weshalb man angeblich drei Wochen braucht, um eine Arbeit zu korrigieren. Abgesehen davon, dass ich mich immer wieder frage, was die Leute eigentlich glauben: Dass nur faule Menschen Lehrer werden, oder dass man durch den Lehrerberuf zwangsläufig zu einem Faultier mutiert, weil das Teil der Ausbildung ist, frage ich mich, wieso anscheinend jeder denkt, wir täten nichts. Das meiste Material der Schulbuchverlage ist großartig, aber ich muss doch trotzdem Unterricht vorbereiten. Klasse A kommt prima mit Gruppenarbeit zurecht, Klasse B braucht Frontalunterricht. Klasse C lernt gern an Texten, Klasse D ist mit einer praktischen Herangehensweise mehr gedient. Meine wöchentlich 25 Unterrichtsstunden bedeuten lediglich ein Abspulen der Arbeit, die ich am Tag zuvor vorbereitet habe: Texte raussuchen, Arbeitsblätter anfertigen, Karten laminieren, Texte vorübersetzen, in neue Themen reinarbeiten, Lektüren lesen, Hausaufgabenhefte kontrollieren. Dazu kommen zwei oder drei Arbeitskorrekturen für durchschnittlich 130 Schüler pro Halbjahr, also rund dreizehn Arbeiten pro Wochenende, Testkorrekturen, Heftkontrollen, Beratungsgespräche mit Eltern, Schülern oder Kollegen, Projektarbeit für Musik- oder Theater-AG's, Sport- oder Vorlesewettbewerbe, Konferenzen, Vertretungsunterricht, kopieren, Elternbriefe, Vorbereitung und Organisation von Klassenfahrten... Die Tage, an denen ich um 13 Uhr nach Hause gehen kann und einen freien Nachmittag zur Verfügung habe, muss ich mit der Lupe suchen. Im Schnitt arbeite ich sechsundfünfzig Stunden die Woche, von denen, freundlich gerechnet, achtundvierzig bezahlt werden. Dabei bin ich jeden Tag im Lehrerzimmer von sechzig, im Klassenraum von etwa dreißig Personen umgeben, von denen viele gleichzeitig etwas von mir wollen. In der großen Pause will Frau Schild mit mir über einen Schüler sprechen, Herr Nickel über einen Fehler im Stundenplan. Während Mathis mir freundlich zuwinkt, kräht Addolorata nach einem Kaffee, weil die 8b wieder so fürchterlich war. Draußen im Flur stehen Max, Thorben und Luis, um sich bei mir krankzumelden, Ebru will noch eben schnell ihre Hausaufgabe abgeben, und die neuen Fünftklässler haben sich auf der verzweifelten Suche nach dem Chemieraum verirrt.
Die vielen Ferien suche ich heute noch. Der einzige wirkliche Urlaub, den ich habe, ist der im Sommer. Und auch nur zum Teil. Zwei Wochen vor Schulbeginn fange ich mit der Vorbereitung an, manchmal habe ich Nachprüfungen, nicht zu vergessen die Konferenz vor dem ersten Schultag. Im Herbst, Ostern oder zu Weihnachten bin ich froh über ein paar freie Tage, um an Reihenvorbereitung und Korrekturen aufzuholen, was ich ohne Urlaub niemals schaffen würde. Ich liebe meinen Schreibtisch. Dort habe ich meine Ruhe, niemand fragt mich, wann ich denn endlich einen Mann finde (Lara), oder ob das mit dem ewigen Haarefärben wirklich sein müsse (Mams). Aber auch ich mag Freizeit. Elternsprechtage und Konferenzen müssen nach Unterrichtsschluss in den Nachmittag gelegt werden und ziehen sich oft bis in die Abendstunden. Und dass Lehrer dann keine Lust haben, auch noch die letzte Sommerferienwoche für Nachprüfungen zu opfern, kann jeder nachvollziehen. Ich behaupte nicht, dass wir mehr arbeiten als die Menschen in der freien Wirtschaft. Ich behaupte nur, dass wir mindestens genau so viel arbeiten, psychisch stärker gefordert sind als manch anderer und deshalb auch ein paar Wochen Sommerferien brauchen und verdienen. Denn wir sollen ja nicht nur unseren Job machen: Wir sollen ihn zudem fröhlich, engagiert und gern erledigen.
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