Nach seiner Begrüßung gingen sie Punkt für Punkt auf der Konferenz-Liste durch. Punkt 1: Die Kolleginnen und Kollegen sollten sich zukünftig vor Klassenfahrten zusätzlich zur Planung auch noch selbst um die Vertretungen kümmern. Das hatte bisher immer der Stundenplankoordinator gemacht. "Lächerlich", schimpfte Addolorata. "Diese Prozedur macht doch wohl mehr Sinn in den Händen von Hans-Jürgen, weil der an seinem Computer den besten Überblick über die Unterrichtsstunden der Kollegen hat. Wir müssen uns die Infos mühsam zusammensuchen." Hans-Jürgen Meyer-Dietz ließ sich auch nicht einschüchtern. "Ich höre immer nur Entlastung, Entlastung. Ich will auch mal entlastet werden, weil diese ganze Tüftelarbeit am Computer immer mehr Zeit in Anspruch nimmt: Die mittlerweile aus allen Nähten platzenden Klassen benötigen pro Ausflug einen Lehrer mehr. Dadurch fällt auch mehr Unterricht aus, der vertreten werden muss. Und wenn ich mich dann ständig mit Kollegen herumschlagen muss, die sich rundweg weigern, zusätzlichen Unterricht zu übernehmen, ist es doch nur zu verständlich, dass ich darauf keine Lust mehr habe, oder?" Jenny fragte sich, ob er direkt auf Frau Schwan anspielte. "Außerdem sehe ich meine Familie kaum noch, die hat auch ihre Rechte." Jenny stimmte ihm innerlich zu. Die ewigen Sparmaßnahmen waren zum Kotzen. Sie bedeuteten einen Teufelskreis aus Ärger und Frust, der leicht mit ein paar zusätzlichen Stellenbesetzungen behoben werden könnte, aber dazu fehlte das Geld. Immer weniger Lehrer würden Ausflüge durchführen wollen. Ausbaden mussten das die, die am wenigsten dafür konnten, die Schüler. Die Schuld dafür bekamen die Lehrer in die Schuhe geschoben. Punkt Nummer zwei setzte sich mit dem Wunsch auseinander, mehr 'Social Media' in den Unterricht zu integrieren. Mathis und andere Kollegen arbeiteten schon lange an der Idee, Themen wie “Umgang mit Facebook und Twitter”, “Fotos im Netz” oder “Cybermobbing” im Unterricht zu behandeln. “Eine hervorragende Idee, nur leider nicht umsetzbar”, wie Schoppi sagte. “Das liegt natürlich nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, an Ihrer Unfähigkeit, sondern einfach an den fehlenden finanziellen Mitteln. Die Schule hat kein Geld für die Anschaffung eines Klassensatzes Tablets.” Jenny kam eine Idee. “Wäre es nicht möglich, einfach nur 15 davon zu besorgen – man kann ja auch zu zweit damit arbeiten?” Doch leider wurde das von den Informatikern heftig bestritten. “Wie soll man in Ruhe recherchieren oder Begriffe googlen, wenn der Mitschüler die ganze Zeit darauf wartet, dranzukommen?” Frau Ziegler hatte eine andere Idee. “Oder man holt die Eltern mit ins Boot. Die haben doch heutzutage fast alle ein Tablet zuhause. Und wer keins hat, bekommt eins von der Schule gestellt.” Doch Schoppi schüttelte den Kopf. “Das geht auch nicht. Erstens werden sich viele Eltern weigern, ihrem Kind ein solch teures Gerät mit in die Schule zu geben, zweitens müssen wir aus Rücksicht auf die sozial benachteiligten Kinder darauf verzichten. Die schämen sich doch, wenn sie sich kein eigenes leisten können.” Gereon, der Prachtpädagoge frisch von der Uni hob die Hand. Kim stöhnte. Böses Mädchen, dachte Jenny grinsend. “Ich sehe das Problem an einer ganz anderen Stelle. Ob eigene Geräte oder geliehene- wie will ich eine 30köpfige Klasse am Tablet unter Kontrolle halten? Bevor ich ihnen irgendwas erklären kann, spielen fünf schon Clash Of Clans, zehn sind in unanständige Seiten vertieft, und der Rest liest die Bildzeitung online. Computer kann ich kontrollieren, Tablets nicht. Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass wir in diesem Rahmen – ich spreche von 30köpfigen Klassen, keinen Umgang mit dem Internet lehren können. Das ist wieder eine Sache, die die Eltern einfach bequem an uns abschieben wollen. Den verantwortungsvollen und vernünftigen Umgang mit dem Internet müssen sie ihren Kindern von Anfang an beibringen. Dann können wir weitermachen und spezielle Bereiche unterrichten.” Mathis erhob sich. “Wie willst du das anstellen, Gereon. Von den Eltern haben wirklich viele keine Ahnung vom Internet. Ich bin ja auch immer dafür, dass Papas und Mamas ihre Erziehungspflicht haben, aber irgendwo ist auch mal Schluss.” “Das sehe ich nicht so”, protestierte Coco laut, “wir können den Kindern hier nur Literatur näher bringen, wenn sie von zuhause Interesse am Lesen mitbringen. Sie kommen hier in Musik nur mit, wenn auch zuhause mal musiziert wird. Und wenn das Internet so eine große Rolle spielt und die Eltern das iPad liebend gern benutzen, um ihre Ruhe zu haben und das Kind davor zu parken, haben sie verdammt nochmal auch die Pflicht, ihnen den richtigen Umgang damit beizubringen. Ich habe die Nase gestrichen voll davon, dass wir ständig für die Erziehungsdefizite der Eltern herhalten sollen.” Beifälliges Gemurmel. Aber Coco war noch nicht fertig. „Außerdem daddeln die Kinder schon in ihrem Privatleben genug an den ganzen Geräten herum. Ich habe einen privaten Nachhilfeschüler, zu dem ich einmal in der Woche fahre. Wenn ich ankomme, legt er sein Handy aus der Hand, und am Ende der Stunde habe ich meine Unterlagen noch nicht ganz in die Tasche gepackt, da hat er sich schon wieder draufgestürzt. Die Mutter steht daneben, lächelt kläglich und sagt mitleidheischend: „Tja, da komme ich nicht gegen an.“ Ich bin der Meinung, wenn viele Eltern es nicht schaffen, diese Sucht ihrer Kinder in den Griff zu kriegen, müssen wir nicht auch noch auf diesen Zug aufspringen. In meinem Unterricht haben iPads, Handys oder Ähnliches nichts verloren.“ Mathis wollte etwas erwidern, doch Coco hob die Hand. „Ich habe ja nichts dagegen, dass man zum Beispiel als Klassen- oder Soziologielehrer über die Chancen und Gefahren des Internets aufklärt, und zuhause kann jeder soviel recherchieren, wie er will. Aber in meinem Unterricht will ich Inhalte vermitteln. Dazu brauche ich nur Ohren, Augen und Aufmerksamkeit der Schüler.“ Schoppi hob die Hand. “Ich sehe schon, dass wir hier heute keine Einigung erzielen werden” Jenny runzelte irritiert die Stirn. Einigung? Worüber? Sie musste wirklich aufpassen, dass sie nicht einschlief. Mit 60 Leuten in einem Raum wurde die Luft schnell stickig, und man versank bei diesen ganzen Diskussionen, die wichtig waren, aber zu keinem Ergebnis führen würden, schnell in so einen angenehmen Nebel der Entspannung. “Herr Wendt hat mit ein paar Kollegen ein Team gegründet, das sich in den nächsten Wochen mit dem Thema auseinandersetzen wird, und wir werden uns auch am pädagogischen Tag nochmal darüber unterhalten.” In der Pause trat Schoppenhauer plötzlich hinter Jenny, und sie schreckte hoch. „Frau Stila, mir liegt eine Elternbeschwerde vor“, kam ihr Chef ohne Umschweife auf den Punkt. „Der Vater von Patricia Kampfeld aus Ihrer 6 hat mich gerade angerufen, er bat um ein Gespräch mit Ihnen in meinem Beisein. Es geht darum, dass sich das Mädchen von Ihnen wohl ungerecht behandelt und vorgeführt fühlt.“ Jenny stockte der Atem. Was? Wieso das denn? Doch sie hatte gar keine Zeit nachzudenken: „Wäre Ihnen morgen um 13.15 Uhr in meinem Büro recht? Laut Stundenplan haben Sie zwar schon um 12 Uhr frei, aber vorher bin ich leider außer Haus.“ Jenny nickte. „Ja, natürlich“, beeilte sie sich zu sagen. Schoppi bedankte sich und eilte in sein Büro. Was war denn bloß passiert? Sie war sich wirklich keiner Schuld bewusst! Patricia hatte während der heutigen Doppelstunde nicht den Eindruck erweckt, dass sie etwas bedrückte. Das Mädchen war generell sehr zurückhaltend, aber so sehr Jenny sich den Kopf zerbrach – ihr fiel nichts ein, kein Vorfall, kein Vorwurf von beiden Seiten, nichts.
Kapitel 2
„Ist Latein als Schulfach überhaupt noch zeitgemäß?“
Schlagzeile einer bekannten Tageszeitung
Jenny war ein Naturtalent darin, sich frühmorgens schon verrückt zu machen mit Schreckensereignissen, die sie am Tag treffen könnten: Eine verspätete Bahn, freche Schüler oder ein kaputter Kopierer. Ein Brief vom Finanzamt könnte sie mit der Forderung überraschen, 2376 Euro nachzahlen zu müssen, oder ihre 30 Jahre alte Küche explodierte und das Haus ging in Flammen auf. Ihr Therapeut hatte ihr sogenannte „Mantras“ mit auf den Weg gegeben, die ihr helfen sollten, sich von dieser Grübelei zu befreien, doch um vier Uhr war sie einfach noch zu müde für den Kampf 'Denken gegen Grübeln'. Heute malte sie sich aus, mit welchen Vorwürfen Ehepaar Kampfeld sie wohl konfrontieren würde. Sie versuchte sich mit der Überlegung abzulenken, welche Handtasche sie heute mitnehmen würde, aber nicht mal das klappte. Jenny liebte Handtaschen und hatte viele. Egal, mit welcher Absicht sie shoppen ging, meistens kam sie mit einer neuen Handtasche nach Hause. Die eine machte sie mehr, die andere weniger glücklich, und Jenny war immer noch auf der Suche nach ihrer Traumhandtasche, einem butterweichen Stück aus stabilem Leder, mit mehreren großen Innenfächern und Außentaschen mit hübschen Schnallen, gerne auch Fellapplikationen. Beige, grau oder hellblau, das wirkte edel und passte zu allem. Doch als sie gedanklich wieder bei den Kampfelds angekommen war, gab sie auf, kochte Kaffee und ging mit ihrem blöde dreingrinsenden „Good Morning!“-Becher ins Bad. Wenn sie sich den strengen Eltern gegenüber schon wie ein kleines Schulmädchen fühlte, wollte sie wenigstens aussehen wie eine souveräne Lehrerin. Als sie dann zur ersten Stunde ihre Klasse betrat, fühlte sie sich schon besser. Sie versuchte heimlich Patricia zu beobachten, doch nichts fiel ihr auf, das Mädchen benahm sich völlig normal, meldete sich sogar zweimal und verhielt sich wie immer. Mittags griff Jenny dann nach ihrem schicken schwarzen Unterrichtsplaner aus glänzendem Leder mit sämtlichen Notizen und eilte ins Direktorat. In der Eingangshalle traf sie schon auf Patricia und ihre Eltern. Sie begrüßte die drei freundlich, und während Patricia und ihre Mutter nicht zu wissen schienen, wohin sie schauen sollten, reckte Herr Kampfeld kampfbereit sein Kinn. Zumindest war jetzt klar, von wem der Ärger ausging.
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