Jenny rümpfte die Nase. „In Blusen fühle ich mich immer wie ein kleines Mädchen, das sonntags zu Besuch bei Oma ist.“ Dann hellte sich ihr Gesicht auf. „Ich hab doch noch den dünnen grauen Pulli mit V-Ausschnitt, der dürfte passen. Dann noch die Kette mit den lila Halbedelsteinen als Farbklecks, und alle sind zufrieden“, frohlockte sie. Kim lachte. „Schön, wenn ich helfen konnte. Dann mach ich mich jetzt wieder an meine Tests, muss gleich noch zur Probe mit Anais und Milena.“ Die Namen versetzten Jenny einen Stich. Milena war Anais' persönliche Pianistin und beste Freundin. Und noch arroganter als Anais, wenn das überhaupt möglich war. „Aber die sind doch so gut, die können doch bestimmt auch allein proben?“, sagte Jenny spitz. Doch Kim stimmte ihr zu. „Das machen sie ja auch ganz oft, aber heute müssen wir ein neues Stück besprechen. Anais hat sich was von Aretha Franklin ausgesucht und wir überlegen, ob wir es im jazzigen Stil lassen, oder ganz anders drangehen. Macht irre Spaß!“ Genau, dachte Jenny. Und sag ihnen das auch noch täglich, damit sie sich noch mehr einbilden. "Bis später bei Coco!“, rief Kim und legte auf. Eigentlich sollte man sich doch über begabte Schüler freuen. Aber bei Anais und Milena wollte Jenny das einfach nicht gelingen. Sie seufzte, verwarf diese Gedanken und wandte sich wieder ihrem Kleiderschrank zu. Heute würde etwas stattfinden, das niemand für möglich hielt. Coco, immer elegant und modern gekleidet, Coco, Prototyp der erfolgreichen Karrierefrau, würde abends ihre geschmackvoll eingerichtete hochelegante Wohnung für eine Tupperparty zur Verfügung stellen. Coco stand auf Tupperware. Diese tollen Plastikschüsseln – hochwertig, effizient und platzsparend. Man konnte hunderte von diesen runden, rechteckigen und quadratischen Kästchen so ineinander- und aufeinander stapeln, dass sie auf fast nichts zusammen schrumpften. Ein Ikea-System für Essbares. Nur haltbarer. Jenny fand diese unentbehrlichen praktischen Hausfrauenhelfer spießig. Wer gab schon zwanzig Euro für eine Plastikschüssel aus? Und wenn sie dreimal einen hohlraumversiegelten Dingsbums mit integrierter Hitzebeständigkeit und Deckeln in den aktuellen Trendfarben hatte. Tupperparty. Was machte man denn da? Jenny kicherte in sich hinein. Auf Pyjamapartys trug man Pyjamas, trug man auf Tupperparties Tupper? War Madonna damals in ihrem "Like a virgin"-Video Werbebotschafterin für Tupper gewesen? Sie rief sich zur Ordnung. Trotz aller Ablehnung hatte sie sich Coco zuliebe informiert: Frauen treffen sich alle paar Monate bei anderen Frauen, die dafür eine Tupperschüssel geschenkt bekommen, um sich von einer professionell ausgebildeten Tupperspezialistin die Vorteile dieser exquisiten Produktreihe vorführen zu lassen. Jenny seufzte.
Als sie bei Coco eintraf, waren alle außer der Beraterin und Kim schon da. Strahlende Haushaltsexpertinnen, die Cocos Tupperschätze bewunderten: „Aaaaah! Nicht zu glauben!“, „Ja, weiter!“, „Gib sie mir!“, „Woooow – wie bist du daran gekommen?! Ooooooh, wie schööööön!“, „Guck mal, wie der knackt!“ Guck mal, wie der knackt?! Jenny wollte als Deutschlehrerin nicht darauf herumreiten, dass man ein Knacken nicht sehen kann und beschloss, mitzumachen. „Hey, schaut mal hier, was für eine multifunktionale Farbe!“, sie hielt ein sonnengelbes Trinkgefäß in die Höhe. Die anderen musterten sie irritiert. Coco lachte und rief: „Darf ich vorstellen, meine gute Freundin und Kollegin Jenny Stila“, nahm ihr den Becher aus der Hand, zischte leise „das ist ein alter Zahnputzbecher, den ich für Tischmüll verwende, du Idiotin“, und zog sie ins Wohnzimmer: Weiß und cremefarben, wohin man blickte. Weiße Wände, weiße Ledermöbel, weißer Kuschelteppich, dunkles Parkett, dunkelbraune, fast schwarze, schwere Holzschränke und -vitrinen, weiße Stehlampen, Kunstdrucke an den Wänden, kaum Pflanzen. Etwas kalt und trist insgesamt, aber auch irgendwie beeindruckend. Jeder wusste, dass man das nicht von einem Lehrergehalt bezahlen konnte. Cocos Mutter hatte ihr dieses Schmuckstück überschrieben, als sie selbst in ein Wohnstift umgezogen war. Jenny fühlte sich bei Coco immer ein bisschen wie in einer Möbelausstellung. Als sei Coco nur auf der Durchreise, wie ein Hotelgast.
„Kommt doch herein, nehmt Platz. Bedient euch, auf dem Tisch stehen Wein, Apfelschorle, Wasser. Kaffee kann jederzeit gekocht werden.“ „Sie sind also auch Lehrerin?“, fragte eine Mittvierzigerin mit glänzender Nase und lachte neckisch. „Hui, da müssen wir uns ja heute alle gut benehmen, damit wir keine schlechten Noten kriegen.“ Jenny rollte innerlich mit den Augen. Aber für schlechte Laune hatte sie keine Zeit. Acht Großstadtdamen thronten alles andere als elegant auf diesen edlen Möbeln, eine wurde fast vom Leder verschluckt. Sie unterhielten sich über nichts anderes als Tupper und – noch schlimmer – Feng Shui. „Du hast eine wunderschöne Wohnung, Charlotte“, flötete Birgit, „so klar und rein. Glaubst du an Feng Shui? Ich hab vorhin in deiner Küche dieses beeindruckende rote Bild gesehen, und es heißt doch in der Feng Shui-Lehre, dass besonders wasserintensive Räume wie Küche oder Bad ihr Gleichgewicht dadurch herstellen, dass man darin viele rote Farben verwendet.“ Zum Glück klingelte es in diesem Moment an der Tür, sonst wäre Jenny ein unbedachter Spruch zum Thema Menstruation herausgerutscht. Kim erschien im Wohnzimmer und setzte sich zu Jenny, kurz darauf schneite auch die Tupperexpertin herein und baute fröhlich ihre Produkte auf. Jede Schüssel, jede Dose oder was auch immer wurde von der Beraterin bis ins kleinste Detail vorgestellt und erläutert. Es gab große, kleine, mittlere, plus-size, oversize, mit Deckel, ohne Deckel, mit Ausguss, ohne Ausguss, weitenverstellbar, höhenverstellbar, mikrowellengeeignet, nichtganzsomikrowellengeeignet, für den großen Hunger, kleinen Hunger, den frühen Hunger, den späten Hunger, für Gemüse, für Fleisch, für Obst, für Käse, Nüsse, Pfeffer, Büroklammern und Strasssteinchen. Jede Schüssel musste von jeder Frau auf- und zugemacht werden. Jeder Behälter musste beschnuppert werden. Die machten den Deckel auf, steckten ihre spitzen, glänzenden Nasen hinein, riefen entzückt „Oh, das riecht so neu!“ und machten den Deckel wieder zu. Am meisten beeindruckt war Jenny von der Redegewandtheit der Verkäuferin, die in einem atemberaubenden Tempo beteuerte, dass das Wohl und Wehe der Küche von Tupper abhing: „Stellen Sie sich vor, Sie haben Mehl, Zucker oder die anderen Kleinigkeiten nicht in unseren vakuumversiegelten Frischhalteboxen, sondern bewahren sie in den üblichen Papiertüten auf. Irgendwann kommen Mehlwürmer, Sie merken es nicht, diese Würmer fressen sich durch Ihren kompletten Schrank, nisten sich hinten in den Sperrholzplatten ein, und eines Tages kracht der Schrank zusammen!“ Sie tippte mit ihren perfekt manikürten Spinnenfingern an eine kleine Plastikschale. „Aus unseren Boxen kommt das Ungeziefer nicht heraus“, strahlte sie.
Als Jenny die Runde mal etwas aufmischen wollte, eine Dose fallen ließ und mit den Worten „stimmt, sie ist wirklich unkaputtbar!“ wieder aufhob, fanden nur Kim und Coco das lustig. Kim lachte sich auch kringelig, als Jenny freimütig zugab, dass ihre Küche ja so alt und verwahrlost sei, dass man da eher von Sheng-Pfui als Feng-Shui sprechen könnte. Als sie dann mit Kim in Cocos Küche stand, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr: „Meine Güte, wie kann man nur so eine...Hausfrau sein.“ Kim grinste. „Sie sind doch eigentlich ganz nett“, meinte sie, und nippte genüsslich an ihrem Kaffee, während sie in Cocos Keksdose herumwühlte. „Ja“, gab Jenny zu. Sie hatte ja nichts gegen die Frauen persönlich, wollte nur mal ein bisschen lästern, „klar, nett sind sie...aber so... spießig.“ Kim drehte sich zu ihr um. „Jenny. Nur, weil du nicht kochst, heißt das noch lange nicht, dass Tupper spießig ist.“ „Was bist du denn jetzt so streng zu mir?“, ereiferte Jenny sich. „Streng?“ Kim lachte. „Du hast behauptet, die Mädels seien spießig. Ich habe nur meine Meinung dazu gesagt.“ Jetzt hatte sie ihren Lieblingskeks gefunden: Zartbitter auf knusprigem Teig mit Nuss. Jenny sah sie nachdenklich an. „Dann sag mir mal deine Meinung zu Cocos Wohnung.“ Kim verspeiste das Plätzchen genussvoll und nieste dreimal wie immer, wenn sie bittere Schokolade gegessen hatte. „Was meinst du?“, fragte sie unbekümmert. „Naja, sie hat uns doch erzählt, sie lebe glücklich mit diesem Tom zusammen – also, nicht zusammen, ich weiß, sie haben getrennte Wohnungen, aber die Wochenenden verbringen sie doch gemeinsam. Aber hier? Keine zweite Zahnbürste, kein Rasierschaum im Bad, keine Klamotten im Schrank, keine Männerzeitschrift, die irgendwo herumliegt... irgendwie sieht das hier total wie eine Singlewohnung aus.“ Kim starrte sie verständnislos an. „Jenny, du schnüffelst in Cocos Sachen herum?“ Jenny verdrehte die Augen. „Natürlich nicht. Ihre Klamotten habe ich gesehen, als sie ein Tuch für mich rausgesucht hat, und an ihrem Spiegelschrank war ich, weil ich dringend Toilettenpapier gesucht habe, da ist es mir einfach aufgefallen. Was denkst du denn von mir?“, fügte sie entrüstet hinzu. Langsam wurde sie sauer. Kim zuckte die Achseln. „Wie dem auch sei, es geht uns nichts an. Wenn sie Probleme hat, kann sie mit uns reden, das weiß sie. Setz sie damit jetzt bloß nicht unter Druck!“ „Was?“, entfuhr es Jenny etwas lauter, „wie kommst du denn darauf?“ Kim versuchte sie zu beschwichtigen. „Ich mein ja nur. Du bist manchmal etwas sehr... emotional. Ich weiß, du willst nur helfen, aber Coco ist erwachsen. Sie kann tun und lassen, was sie will und uns teilhaben lassen, an was sie will.“ Jenny wollte sich nicht abwimmeln lassen. Diesmal nicht. „Aber sich Sorgen machen hat doch nichts mit einmischen zu tun? Wir-“ Kim seufzte. „Jenny. Du hast ja Recht. Aber trotzdem ist es nicht immer gut, gleich einen Wirbel zu machen, weil einem etwas seltsam vorkommt. Ich weiß, du willst am liebsten jedem helfen, aber das geht nunmal nicht. Wie halt in der Schule. Da willst du auch alle Kinder zu guten, anständigen Menschen erziehen. Das funktioniert aber nicht so einfach. Das sind eigenständige Persönlichkeiten, die sich selbst entwickeln müssen.“ Jenny schüttelte entgeistert den Kopf. „Was redest du denn da? Erziehung ist was für Hobbypsychologen, oder was! Und was hat das bitte mit Coco zu tun?“
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