Doch Kim hatte anscheinend keine Lust mehr auf Diskussionen, schnappte sich noch einen Keks, rief unbekümmert: „Komm, lass uns wieder zu den Hausfrauen gehen“ und verließ die Küche. Jenny sah ihr konsterniert nach. Was wussten sie eigentlich über Cocos Privatleben? Kim begriff anscheinend den Unterschied zwischen Neugier und ehrlicher Anteilnahme nicht. Und dass es Menschen wie Coco gab, die sich um vieles sorgten, aber ihre eigenen Probleme lieber für sich behielten. Auch diese Sauberkeit hier. Nicht jeder musste Kleiderberge oder Papierstapel zuhause herumliegen haben, aber diese abwaschbare Ungemütlichkeit, als würde niemand hier wohnen, passte gar nicht zu Coco. Sie war ordentlich und elegant, ja, aber nicht kalt.
Als Jenny am nächsten Abend ihre Emails checkte, fiel sie fast vom Stuhl: Rubens Mutter hatte eine dreiseitige Lebensbeichte geschickt, in der sie sich rechtfertigen zu müssen glaubte, weshalb ihr Sohnemann so war, wie er war. "Ich bin wie immer vollkommen Ihrer Meinung, liebe Frau Stila, doch wegen Rubens aufsässigem Verhalten bin ich leider völlig mit meinem Latein am Ende. Es tut mir Leid, dass ich beruflich so viel unterwegs bin, aber die Absprache mit meinem Mann lautet nunmal, dass er sich dann mehr kümmern muss. Das Problem ist leider, dass Volker Rubens Verhalten völlig harmlos findet, es sogar unterstützt." Er war – vielleicht, weil er als Pfarrer eher ein ernsthaftes Umfeld hatte – vielmehr stolz auf die diversen „Dummejungenstreiche“ seines Sohnes und sah nicht ein, weshalb man da überreagieren solle. Jenny seufzte. Um Dummejungenstreiche ging es nicht. Auch nicht darum, dass er anderen etwas tat. Er kannte einfach keine Grenzen, sah nur sich selbst, war völlig unfähig, Empathie zu entwickeln, sich in andere hineinzuversetzen. Er stieß Kinder weg, die nicht seiner Meinung waren, mischte sich ungefragt in Erwachsenengespräche ein, unterbrach Mitschüler im Unterricht, wenn sie nach seinem Empfinden etwas Dummes sagten. Ruben wurde alles ermöglicht vom Fußballverein über Saxophonunterricht bis hin zu Theaterkursen, aber was er anscheinend vielmehr brauchte, waren Gespräche, ehrliches Interesse seiner Eltern an seiner Person und konsequente Grenzen. Jenny stellte sich das Familienleben bei Lichters so vor, dass Ruben beim Abendessen von seinem Vater abwesend gefragt wurde: „Na, alles prima, Junge?“, Ruben antwortete: „Ja, alles klar“, um seine Ruhe zu haben oder weil er wusste, dass es seinen gestressten Vater gerade nicht wirklich interessierte. Und wenn die Mama endlich zuhause war, wollte er sie nicht belasten und fraß alles in sich hinein, ließ seine Ängste und Aggressionen, dann an Lehrern und Mitschülern aus. Spekulation hin oder her, Jenny schloss das jedenfalls aus der Mail seiner Mutter. Sie klappte ihren Laptop zu. Was sollte sie auch antworten. Das Telefon klingelte. Mams. "Hallo, mein Schatz“, plärrte diese gleich aufgekratzt ins Telefon, „wie geht es meiner Kleinen?“ "Prima“, antwortete Jenny pflichtgemäß. Ihr fehlte gerade jede Lust auf ein längeres Gespräch. „Wie geht’s dir? Was gibt’s?“ „Och, bei mir ist alles paletti“, freute Mams sich hörbar, „ich rufe an, weil Lara uns am Samstag nächster Woche zum Kaffee eingeladen hat. Du kommst doch sicher, oder?“ Jenny hatte riesige Korrekturberge abzuarbeiten, außerdem hatte sie keine Lust auf den Spießrutenlauf, Fragen über ihr nicht vorhandenes Privatleben beantworten zu müssen, und überhaupt- wieso lud ihre Schwägerin Lara sie nicht selber ein? Das war wieder typisch. „Ach“, wiegelte Mams ab, „nimm das nicht persönlich, sie weiß ja, dass wir regelmäßig telefonieren.“ „Lara telefoniert mit Gott und der Welt", musste Jenny loswerden, "gerne stundenlang, wenns sein muss, aber für mich hat sie keine Zeit?“ Mams blieb ihr die Antwort schuldig, doch Jenny kannte den Grund auch so. Als Single zählte Jenny für Lara nicht zu den ernstzunehmenden Menschen. Lara hatte die nervtötende Angewohnheit, Jenny immer nur dann wie eine gleichwertige Person zu behandeln, wenn sie gerade einen Freund hatte. Jenny seufzte, weil sie wusste, wie es jetzt weiter ging. „Ich hab sooo viel zu korrigieren, Mams.“ Ihre Mutter seufzte wie erwartet zurück. „Du Arme. Aber am Wochenende kannst du für deine Familie wohl mal ein paar Stunden erübrigen, oder? Die Hefte laufen dir ja nicht weg.“ Langsam machte sich Wut in Jenny breit. Wie brachte es ihre Mutter nur immer wieder fertig, dass sie sich wie ein quengeliges Kind fühlte, obwohl sie im Recht war? „Das stimmt, aber es kommen neue nach, und ich wollte diese Klausur fertig haben, bevor ich nächsten Dienstag die nächste Arbeit schreibe. „Kannst du dann nicht einfach Freitag etwas mehr machen?“, schlug Mams vor. „Mams. Ich werde Freitag viel machen. Soviel nur geht. Bis mein Kopf auf die Tischplatte knallt." Außerdem hatte sie Freitag das Date mit Franz. Aber das würde sie ihrer Familie sicher nicht auf die Nase binden. Und überhaupt- hatte sie nicht auch ein Recht auf Privatleben abseits ihrer Familie? "Wieso könnt ihr alle nicht verstehen, dass ich einen Fulltime-Job habe? 24 Stunden bleiben 24 Stunden, und was ich in der Zeit nicht schaffe, liegt am nächsten Tag immer noch da!“ Jenny verabscheute die Schuldgefühle, die jetzt in ihr hochkrochen. Sie hatte doch nichts falsch gemacht. Wieso sollte sie immer Verständnis haben und auf jeden Rücksicht nehmen, wieso schaffte ihre Familie das nicht? Außerdem war sie eh immer hin und hergerissen, wenn es um Kai und Lara ging. Sie liebte ihren Bruder sehr, und auch mit Lara kam sie gut klar, doch aus irgendeinem unerfindlichen Grund meinten die beiden ihr ständig ungefragt Ratschläge erteilen zu müssen, was sie zu tun und zu lassen hätte. Und statt, wie vermutlich jeder erwachsene Mensch dieser Welt, einfach zu denken „Klappe halten, das ist meine Sache“, fühlte sich Jenny immer sofort klein und unerfahren in ihrer Gegenwart. „Armin kommt auch!“, fügte Mams berechnend hinzu. Ach, du Schande, jetzt ging die Leier wieder los. Da Minchen in ihrer Familie sehr beliebt war, wurde er weiterhin zu sämtlichen Feierlichkeiten eingeladen. Er war ja auch ein Schatz, der wie Kai kam, wenn Jennys Computer kaputt war und ihn reparierte, oder, wenn zu wenig Geld da war, nach einem Besuch bei ihr einen Hunderteuroschein auf dem Tisch „vergaß“. Wenn der Kühlschrank nichts mehr hergab: Minchen besorgte Getränkekisten. Wenn der Drucker nicht mehr druckte: Minchen legte neue Patronen ein. Insgeheim hofften alle, dass sie wieder zusammen kämen, was die Treffen für Jenny auch nicht entspannter machte. Sie seufzte. „Mams. Ich komm ja gerne, wenn es machbar ist. Aber nicht länger als zwei Stunden, okay?“, fragte sie in der irrigen Hoffnung, etwas Dankbarkeit zu erhaschen. Weit gefehlt. Mams blieb Mams. "Ja...klar...“, antwortete sie etwas spitz, „damit werden wir uns dann wohl begnügen müssen.“ Und sie fügte noch hinzu: "Du weißt, dass Lara sich immer sehr viel Mühe gibt." Ja, das wusste sie. Lara, die gottgleiche Schwiegertochter. Konnte alles, wusste alles, machte alles perfekt. Im Moment endete jedes Telefonat mit ihrer Mutter so, dass Jenny einfach nur noch auflegen wollte. „Okay, ich meld mich. Pass auf dich auf, ja?“ „Jaja, mein Schatz“, gurrte Mams schon wieder besänftigt, „fühl dich gedrückt. Und arbeite nicht zuviel, ja? Liebe Grüße. Tschüss, mein Schatz, bis bald.“ Wo war die nächste Tafel Nussschokolade.
Diese Dates waren einfach zuviel für ihre Nerven. Einerseits wünschte Jenny sich nichts sehnlicher als einen festen Freund, andererseits war sie diese ewigen Abende der Enttäuschung gründlich leid. Sie lernte jemanden kennen bei LFE, man schrieb sich hin und her, fand sich sympathisch und tauschte Fotos aus. Traf sie den jeweiligen Typen dann endlich in der Hoffnung, diesmal könnte es tatsächlich der Richtige sein, musste Jenny zum wiederholten Mal feststellen, dass es eben nur ein weiterer netter Kerl auf der Nettekerleliste war. Jenny glaubte an Liebe auf den ersten Blick. Zumindest war sie der Meinung, dass der erste Eindruck zählte. Dabei kam es nicht unbedingt auf gutes Aussehen an, aber auf selbstbewusstes Auftreten, lachende Augen, eine angenehme Stimme. Wenn das alles nicht passte, die erste Anziehung fehlte, konnte man es gleich vergessen. War man jedoch von der Ausstrahlung des Anderen angezogen, war das zwar keine Garantie für ewiges Glück, aber doch eine gute Grundlage für weitere Treffen. Soweit die Theorie. Aber bis jetzt hatte sie diesen tollen ersten Eindruck vergeblich gesucht. Und das nach 20 Dates.
Читать дальше