Während er seine Suppe schlürfte, musterten Vreni und Peter den Mann von oben bis unten und kamen schließlich zu dem Entschluss, dass er dem Nikolaus doch recht ähnlich sehe. Wenn auch seine Kleidung zerlumpt und verschlissen war, passten zumindest der Bart und die rundliche Figur zum typischen Nikolaus-Outfit.
Nach dem Essen wurden die Plätzchen herumgereicht und die Mutter begann ein Weihnachtslied zu singen. Vreni und Peter stimmten als erstes mit ein.
Auch der Vater und der alte Mann beteiligten sich an der musikalischen Darbietung.
Und obwohl auch nicht alle unbedingt den richtigen Ton trafen, sangen sie nun ein Lied nach dem anderen.
Weihnachtsgeschichten wurden erzählt und auch der Mann wusste etliches zu berichten.
Vreni ging kurz nach draußen, um heimlich die »Geschenke«, die sie in ihren Taschen verstaut hatte, am Boden zu verteilen. Sie legte zu jedem Gegenstand einen Zettel mit den Namen. Auch die beiden Nikoläuse fanden, nachdem sie noch die beiden zugehörigen Zetteln ausgebessert hatte, ihren Platz. Auf dem einen schrieb sie ihren Namen unter den ihres Bruders und auf den anderen »Gast« darauf. Nun schob sie diese unter je einem Schokoladenmann.
Wie, als wenn nichts geschehen wäre, kam sie wieder herein stolziert und stimmte sofort in das gerade gesungene Weihnachtslied mit ein. Alle waren fröhlich.
Als nun von weit her die Kirchturmuhr mit ihrem Sechsuhrschlag die bevorstehende Bescherung ankündigte, fragte Peter ganz scheinheilig: »Du Mama, glaubst Du, dass dieses Jahr vielleicht das Christkind zu uns gekommen ist und etwas vor die Türe gelegt hat?«
»Ich weiß es nicht« , antwortete die Gefragte. »Sollen wir mal nachschauen? Aber sei bitte nicht zu sehr enttäuscht, wenn es uns dieses Jahr auch wieder vergessen hat!«
Peter und Vreni zwinkerten sich vergnügt zu, während alle aufstanden.
»Ui! Da schau her! Da steht ja was! Ich glaube, dass das Christkind doch da war und uns dieses Jahr mal nicht vergessen hat!« , rief Peter ganz vergnügt, als alle im Freie standen und mit großen Augen die Sachen im Schnee betrachteten.
Vreni bückte sich und hob ganz scheinheilig ein Geschenk auf.
»Mama, das ist für Dich!« , rief sie künstlich aufgeregt, als sie ihren selbst geschriebenen Zettel, auf dem MAMA stand, inspizierte. Sie überreichte ihrer Mutter die in Zeitungspapier eingewickelte Nadelkissenschachtel. »Und das ist für Dich, Papa« , seufzte Peter zufrieden, als er seinem Vater den im Schnee stehenden Krug aufhob.
»Wow - sogar für unseren Gast ist ein Schokoweihnachtsmann da!« , grinste Vreni und übergab dem Mann einen Nikolaus, der diesen dankbar und schelmisch lächelnd annahm. »Und schau Peterl, für uns zwei ist auch einer da!« . Als Peter sich bückte, um den Schokoladenmann an sich zu nehmen, fiel sein Blick plötzlich auf einen verschlossenen Brief, der neben ihm im Schnee lag.
»Wo kommt denn der auf einmal her?« , fragte er ganz erstaunt und schaute zu seiner Schwester, die ratlos mit den Schultern zuckte, hinüber. »Da steht FÜR ALLE! drauf!«
Er gab den Brief seinem Vater, der ihn sogleich öffnete.
Als er ihn durchgelesen hatte schüttelte er ungläubig den Kopf. »Das gibt es doch gar nicht! Das kann doch gar nicht sein!«
»Was steht denn da drin?« , wollte die Mutter wissen. »Ist was Schlimmes passiert?«
»Nein! Im Gegenteil! Da steht drin, dass wir zwei mit unseren Kindern auf eine Weihnachtsfeier heute am Heiligen Abend in der Rosenstrasse 35 eingeladen sind. Wenn wir Gäste haben, sollen wir diese auf alle Fälle mitbringen.«
»Aber wir können doch nicht einfach auf eine Weihnachtsfeier zu fremden Leuten gehen. Schau nur, wie wir aussehen. Wir haben doch gar nichts passendes zum Anziehen! Nein, ich geh da auf gar keinen Fall hin!« , verkündete die Mutter entschlossen.
»Aber warum denn nicht?« , mischte sich der Mann mit einem Grinsen auf den Lippen ein. Sein langer weißer Bart bauschte sich dabei mächtig auf. »Man kann doch einfach mal hinschauen und wenn es nichts ist, dann kann man auch gleich wieder gehen!«
»Au ja!« , riefen die beiden Kinder wie aus einem Mund. »Lasst uns doch einmal zu einer richtigen Weihnachtsfeier gehen!«
»Komm schon!« , setzte jetzt auch der Vater hinzu. »Wir verlieren doch nichts, wenn wir zu der Adresse gehen. Das ist gar nicht weit weg von hier. Und außerdem können wir das ja als weihnachtlichen Abendspaziergang auslegen!«
Nach langem Hin und Her lies sich die Mutter endlich überreden und alle zogen sich warme Jacken an, um dieser mysteriösen Einladung Folge zu leisten.
Kurze Zeit später bogen die Fünf in die Rosenstraße ein.
Vor dem Haus mit der Nummer 35 - das Letzte in der Straße - stockte ihnen der Atem. Sie standen vor einer kleinen Villa mit einem wunderschön weihnachtlich geschmückten Vorgarten und einer großen, mit Lichter übersäten Tanne. Auf den Giebeln des Hauses lag der unberührte Schnee wie Zuckerwatte verteilt, der Kamin rauchte und aus den hell erleuchteten Fenstern drang leise weihnachtliche Musik.
»Ich hab doch gleich gesagt« , bekräftigte die Mutter, »dass wir da nicht reingehen können! Das Beste ist, wir kehren wieder um!«
»Ach was!« , sagte der alte Mann und hatte bereits die Gartentür geöffnet. »Es hat doch ausdrücklich in dem Brief gestanden, dass alle eingeladen sind und kommen sollen! Also worauf wartet ihr noch - lasst uns hinein gehen!«
Peter war der Erste an der Haustür. »Da hängt ja ein Zettel mit lauter goldenen Buchstaben dran!« , rief er ganz erstaunt.
Vreni, die hinter ihm heran geeilt war, begann laut zu lesen. »Liebe Freunde! Geht ruhig schon einmal hinein, setzt Euch in die Stube zum Weihnachtsbaum und den Geschenken und wärmt Euch richtig auf. Im Zimmer nebenan steht ein voller Kleiderschrank! Sucht Euch aus, was Euch gefällt! Das Badezimmer ist im ersten Stock! Der fertige Braten steht im Rohr und wartet darauf, gegessen zu werden. Außerdem erwartet Euch noch eine große Überraschung!«
Alle sahen sich verwundert an. Wer war dieser unbekannte Wohltäter? Es schien gerade so, als ob er sie ganz genau kannte, obwohl sie aufgrund ihrer Armut und ihrer schäbigen Kleidung kaum Kontakt zu anderen Menschen hatten. Im Gegenteil, sie wurden von den Meisten gemieden und verachtet!
»Das gibt`s doch gar nicht« , wunderte sich der Vater. »Uns kennt doch niemand. Aber wenn man das liest, könnte man meinen, die wissen über uns ganz genau Bescheid!«
»Meinst Du, dass sich da jemand einen üblen Scherz mit uns erlaubt?« , warf die Mutter ganz skeptisch ein! »Nicht, dass wir da jetzt hineingehen und dann rufen sie die Polizei und lassen uns als Einbrecher verhaften?«
»Nein! Das kann ich mir nicht vorstellen!« , lächelte der alte Mann ganz vergnügt und öffnete die Tür. »Kommt rein! Wir machen einfach genau das, was da auf dem Zettel steht!«
Mit diesen Worten trat er über die Türschwelle in die warme Stube. Vreni und Peter folgten ihm. Nur die Mutter und der Vater zögerten.
»Was ist jetzt?« , fragte der Alte. »Von draußen kommt`s kalt rein. Kommt rein, damit wir die Türe endlich schließen können. Wir haben bis jetzt genug gefroren!«
Zögerlich drückte der Vater die Hand der Mutter und beide betraten das Haus.
»Na also! Es geht doch!« , lachte der Alte und schloss die Türe hinter ihnen.
Alle sahen sich mit großen Augen um! Es war noch viel schöner, als sie es sich erträumt hatten. Mitten in der Stube stand ein großer, bunt geschmückter Christbaum, unter dem eine Vielzahl an Geschenken lag.
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