Auf der rechten Seite vor dem Tor war eine gefasste Wasserquelle. Ein paar Stufen führten zu dem Becken hinunter, in dem das Wasser sich sammelte. Um den Brunnen herum standen schon eine Anzahl Männer, einige davon mit Schafen, für die sie Wasser in die Tränkrinne schöpften. Sie alle hatten gewartet, bis das Tor geöffnet wurde, um in die Stadt hineinzugehen und auf dem Markt ihre Waren und Tiere zu verkaufen. Hinter Terach drängten die ersten schon durch das Tor, während andere immer noch ihre Tiere trinken ließen. Je mehr Wasser sie im Bauch hatten, umso mehr Getreide würde es geben, wenn die Tiere gegen das Korn aufgewogen wurden.
Wenn die Händler das Tor passiert haben würden, kämen schon bald die Töchter der Stadt mit ihren Krügen zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Die Wasserkanäle der Stadt, die durch die vornehmeren Viertel gingen, waren nur dazu bestimmt, um die Abwässer und Fäkalien wegzuschwemmen.
Nachdem Terach eine Weile gegangen war, blieb er stehen. Er reckte sich und atmete die frische Morgenluft ein. Wie rein war sie hier im Gegensatz zu der stickigen Luft in der Stadt! Und wie weit schweifte hier der Blick, fast bis in die Unendlichkeit! Die Sonne stand noch nicht weit über dem Horizont. Terach füllte seine Lungen mit der nach würzigen Kräutern duftenden Luft und hob seine Arme seitwärts empor, so dass sein Stecken zum Himmel zeigte. Vor ihm zur Linken wuchsen in einem riesigen Hain Dattelpalmen in den wolkenlosen Himmel, rechts sah er in der weiten Ebene den Euphrat, dessen Lauf sich, hell schimmernd vom Licht der noch tief stehenden Sonne, in der Ferne verlor, und er hörte das Rauschen des Flusses. Er schloss die Augen, als wollte er das, was er gesehen, gehört und gerochen hatte, in sich verschließen, um es ewig in sich zu bewahren und nie zu vergessen.
Als er weiterschritt, flatterten vor ihm Vögel auf vom Weg und aus dem taufrischen Gras. Terach schaute ihnen nach und dachte bei sich, bald werde er so frei sein wie sie.
Er wollte jenen Mann aufsuchen, mit dem er vor einigen Tagen gesprochen hatte. Wenn der nun auf seinen Handel einging, würde er bald nicht mehr in die Stadt, die sich hinter den grauen und abweisenden Mauern verbarg, zurückkehren. Noch hatte jener nicht eingeschlagen. Aber Terach war zuversichtlich. Bald, so die Götter es wollten, würde er sich nicht mehr wie ein gefangenes Tier fühlen. Ihm war jetzt schon, als zerspringe seine Brust. Ein Gefühl von lang ersehnter Freiheit erfüllte ihn.
Als er vor sich die Zelte des Nomaden erkannte, verzögerte er die Schritte. Was würde sein, wenn er nun doch nicht auf seinen Vorschlag einginge? Eine leise, bange Ahnung beschlich ihn. Er wusste nicht, sollte er eilen, um so schnell wie möglich sein Glück ergreifen zu können, oder sollte er seine ihm vielleicht bevorstehende Enttäuschung möglichst lange hinauszögern.
Die Zelte standen inmitten einer kleinen Gruppe von Tamarisken. Terach trat auf das größte zu und rief nach dem Mann. Der trat heraus zu ihm, und sie begrüßten sich wie alte Freunde. Und doch schien Terach, der andere sei nicht gerade erfreut über den Besuch. Er zeigte ein verschlossenes Gesicht, wie einer, der etwas verbergen oder verheimlichen will und einem nicht geradeaus in die Augen zu schauen wagt.
Sie sprachen lange über das Wetter, über den schönen Morgen, den blauen Himmel, die Schafe, über Terachs Söhne, deren ablehnende Haltung dieser jedoch verschwieg. Doch keiner wollte auf den eigentlichen Grund des Besuches eingehen.
»Du bist gekommen wegen deines Vorschlags«, begann nach einer Weile des Schweigens dann doch der Nomade.
Terach nickte zustimmend.
»Hast du es dir überlegt?«, fragte er.
»Ich bin alt und werde bald sterben«, sagte jener. »Dein Vorschlag hat mir eingeleuchtet. Aber dann bin ich in die Stadt hineingegangen. Bis jetzt hatte ich immer einen Bogen um sie gemacht. Zuerst, als ich durch das große Tor kam, hab ich gestaunt. Ich war überwältigt von der Größe der Häuser, von der breiten Straße, von den vielen Menschen. Aber als ich weiter in die Stadt hineinging und in die engen Gassen, da fühlte ich nur noch Beklemmung. Und dann dieser Gestank! Nein, Terach, in dieser Stadt könnte ich nicht leben, und wäre es auch nur um zu sterben. Du weißt, ich habe keinen Sohn mehr, aber ich habe eine Schwiegertochter und Enkeltöchter, die mit ihren Männern bei mir wohnen. Ich könnte ihnen das nicht antun. Ich verstehe dich ja, dass du hinaus willst aus der Stadt. Aber mir erginge es auch so. Und auch meinen Nachkommen. Ich kann sie nicht einsperren in diese Mauern. Wir sind Nomaden, wie dein Vater einer war. Ich habe ihn nie verstehen können.«
Terach stand ihm stumm gegenüber und nickte nur. Er sah, es hätte keinen Sinn, weiter zu verhandeln.
Auf einmal sah die Welt für ihn ganz anders aus. Er fühlte einen heftigen Schmerz in seiner Brust.
»Es tut mir leid«, sagte der andere.
Wieder nickte Terach stumm.
»Leb wohl«, sagte er dann und wandte sich um. Mit schweren Schritten, als wären Steine an seine Füße gebunden, ging er davon.
Er hörte keine Vögel mehr singen. Vielleicht war es zu heiß geworden. Sie hatten sich im Schatten versteckt oder waren zum Fluss gezogen. Auch den hörte er nicht mehr rauschen. Die Brust, die am Morgen noch zu zerspringen drohte, war in sich zusammengefallen. Der Stecken in seiner Hand zeigte nicht mehr nach dem Himmel. Er stieß nur noch auf den harten, trockenen Boden.
Jetzt leuchteten nicht mehr die hellen, sonnenbeschienenen Zelte des Nomaden vor ihm, nur noch die dunklen, drohenden Mauern der Stadt.
Seine Söhne würden sich freuen, vor allem Haran, aber auch Nahor. Nur Abram würde vielleicht seine Enttäuschung teilen.
Er ging langsam auf die Stadt zu wie einer, der eine Todesnachricht überbringen muss.
Wie das große geöffnete Maul eines riesigen Tieres, das ihn zu verschlingen drohte, sah er vor sich das Tor, auf das er zuschritt. Wie ein aus dem Gefängnis Entflohener, der ein wenig die Freiheit geschnuppert hat und dann von den Häschern in seine enge Zelle zurückgeführt wird, fühlte er sich.
Die Wache ließ ihn passieren. Fast wie ein Blinder ging er durch die Menge der Leute hindurch, die Rufe der Händler drangen nicht zu ihm durch, die Handwerker, die unter ihren Türen saßen und ihn grüßten, sah er nicht.
»Was ist mit Terach los?«, dachten jene, die ihn kannten.
Er bog nicht in die Gasse ein, die zu seinem Haus führte. Er ging weiter bis zum Straßenkreuz, ging in eine Schänke und ließ sich einen kleinen Krug Bier bringen. Die Wanderung an der Sonne hatte ihn durstig gemacht. Der trübe Gerstensaft rann kühlend seine Kehle hinunter. Doch als er den bitteren Satz des Bieres, der auf dem Grund des Kruges schwamm, in sich hineinschlürfte, ekelte es ihn, und er spuckte ihn auf den Boden.
Endlich raffte er sich auf, zahlte mit einem Silberplättchen, nahm seinen Stecken und verließ die Schänke.
Vor seinem Haus holte er noch einmal tief Atem, bevor er die Tür zur Werkstatt öffnete und eintrat. Er wollte jetzt nicht in die Wohnung zu Sia gehen. Doch arbeiten mochte er auch nicht. Er saß nur auf seinem Schemel und drehte ein Schnitzmesser in seiner Hand herum.
Seine Söhne hatten, als sie am Morgen in die Werkstatt gegangen waren und ihren Vater nicht bei der Arbeit antrafen, geahnt, was er vorhatte. Sie hatten sich an ihre Plätze gesetzt und zu arbeiten begonnen. Haran hatte noch eine Weile über das Vorhaben seines Vaters gemotzt. Als seine Brüder aber nicht darauf eingegangen waren, verstummte er bald. Bis zum Mittag hatten sie stumm ihre Arbeit verrichtet, bis die Mutter zum Essen rief. Sia war erstaunt, dass Terach nicht da war. Im Wohnraum warteten sie auf ihn.
Endlich hörten sie die Tür zur Werkstatt gehen. Abram stand auf, um ihn zum Essen zu holen.
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