Es dauerte kaum ein paar Atemzüge. Schon fühlte ich mich wieder vollkommen normal. Aufstehen zwecklos. Roman hielt mich fest. „Roman, es geht mir gut.“ Ich spürte seine aufkeimende Wut. Dennoch ließ er mich los. „Dir geht es erst wieder gut, wenn du nicht mehr wegtrittst, Sam.“ Jaja. Was sollte ich tun? Mich in Watte packen? Im Bett liegen bleiben? Ausgeschlossen. „Du fällst also öfter um?“ Nachdenklich legte Trudi einen Ellenbogen in die Hand und rieb sich mit der anderen das Kinn. „Wie oft?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Hin und wieder. Hab nicht gezählt.“
„Heute ist der 21. Dein Unfall war auch ein 21. Und wenn ich mich recht entsinne, weißt du nicht genau, wie es passiert ist.“ Roman nickte zustimmend, wobei er mich genau beobachtete. „Bestimmt nur ein Zufall.“, sagte ich. Im Stillen frage ich mich jedoch, ob es wirklich einer war. „Beides sind Sonnenwendfeste. Falls dir diese Worte ein Begriff sind. Findest du das nicht eigenartig?“ Ok.
Langsam kam ich ins Grübeln. Ich wusste von den Bedeutungen dieser Tage durch Alans Rudel.
Aber sie?
Gut. Trudi war ein wandelndes Lexikon. Es gab so gut wie nichts, was sie nicht wusste. Auch wenn sie in ihrer Naivität vieles davon in den Wind schlug. Oder hin und wieder vergaß. „Ich… äh… bin das letzte Mal – vor heute – vor vier Tagen umgekippt. Kein Sonnenwendfest.“ Trudi schniefte hörbar. „Tja, da geht sie dahin meine Theorie. Dabei war sie so schön. Und mysteriös. Und ein bisschen romantisch.“ Romantisch?
Meine Fresse!
Unter Romantik verstand ich was anderes.
Eben wollte ich Trudi genau das an den Kopf werfen, da hielt sie mitten in ihren Bewegungen inne. Ihre Augen glasig. Sie hockte auf ihren Knien, die Arme schlaff an den Seiten, als wartete sie auf einen Befehl. „Wir können das Risiko nicht eingehen, dass jemand deine Schwachstelle kennt, Sam.“ Entrüstung machte sich in mir breit. Ich wollte Trudi verteidigen. Sie würde mich niemals verraten. „Absichtlich nicht, Sam. Das glaube ich dir. Aber sie kann ihre Gedanken nicht verschließen. Du magst momentan bei niemandem auf der Abschussliste stehen, doch das kann sich jederzeit ändern. Dann sind diese Informationen Gold wert; das weißt du.“ Seufzend gab ich ihm Recht. „Ich bringe sie heim. Mit der Erinnerung an einen netten Abend. Dann reden wir.“
War mir nicht recht.
Nicht wirklich.
Roman klang endgültig. Ihm zu widersprechen wäre sinnlos. Er vergewisserte sich, dass ich wohlbehalten auf die Couch kam. Schnappte sich Trudis Schuhe sowie Handtasche und teleportierte meine Freundin nach Hause. Nur wenig später saß er neben mir und beobachtete mich schweigend. „Was?“ Es nervte mich, wenn er nicht sprach. „Sie hat Recht.“
„Womit?“
„Mit den Sonnenwendfesten. Du bist damals auch im Krankenhaus zusammengebrochen. Kurz bevor du entlassen werden solltest. Erinnerst du dich? War im Dezember.“ Und woher wusste das Roman? „Hab eben meinen Vater gefragt.“ Steward. Natürlich. „Das erklärt zwar nicht die anderen Tage, Sam, doch es lässt darauf schließen, dass es tatsächlich etwas mit Alan zu tun hat.“ Ich erinnerte mich, dass Roman dies bereits einmal in Erwähnung gezogen hatte. „Glaubst du, dass er davon weiß?“ Roman schwieg. Entweder wusste er es nicht oder wollte es mir nicht sagen. „Na gut. Angenommen, er hat wirklich etwas damit zu tun – und es sind keine Zufälle – was bringt ihm das?“ Roman knurrte. Fast wie Alan.
Hatte ich noch nie bei ihm gehört.
„Er verunsichert dich. Setzt dich einer Gefahr aus. Reicht das nicht?“ Bloße Vermutungen. Könnten wir es Alan nachweisen? Und falls ja, was unternahm ich dagegen? Roman schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich bin mir sicher, es hat etwas mit Alan zu tun. Aber entweder geschieht es unbewusst oder es läuft über eine dritte Partei.“ Aha. Und was hieß das im Klartext? „Willst du das wirklich wissen?“ Nein! Ich fragte aus lauter Langeweile. „Natürlich. Du liest doch sowieso meine Gedanken. Also weißt du auch, dass ich es wissen will. Das ist übrigens verwirrend. Trudis Erinnerungen löschst du. Dabei bin ich doch selbst ein Risiko.“
„Bist du nicht. Ich kann deine Gedanken lesen, weil wir eine Bindung haben. Stépan – nun, das spricht für sich selbst. Jeder andere Pir und Vampir bräuchte dein Einverständnis. Und selbst dann gelänge ihm das nur, wenn du dich sehr, sehr beharrlich auf ihn konzentrierst.“ Ah. Verstanden.
Die Vampirin bei den Elfen hatte sowas erwähnt. Bevor ich mein ganzes Denken mit intensiver Hartnäckigkeit auf sie gelenkt hatte. Meiner Sprache beraubt, war mir keine andere Möglichkeit geblieben, um mich zu verständigen.
Es war mir damals überhaupt nicht bewusst gewesen, dass ich allein durch die Bindung an Roman bereits eine gewisse Mauer in meinem Kopf besaß. „Ich dachte, ich muss selbst daran arbeiten.“ Was diese Mauer betraf. „Nur gegen mich und Stépan. Bei allen anderen dürfte sich das erledigt haben. Du ziehst diese Mauer ganz unbewusst. Jetzt, nachdem du weißt, wie es geht.“ Na das war doch mal etwas, was ich gern hörte.
Beruhigend.
„Zurück zu Alan. Wie hast du das gemeint?“ Roman holte tief Luft. Presste die Lippen zusammen. Das wirkte sehr menschlich. „Wenn du diese Ausfälle hast, höre ich Stimmen. Ich kann sie nicht richtig verstehen. Es könnten Gesänge sein. Oder Beschwörungen. Als ob dich jemand verhext. Keine Ahnung. Aber – und das ist das wichtige – wären es Rudeldinge, in die du bewusst integriert wirst, gäbe es diese Stimmen für mich nicht. Du erinnerst dich an das, was Stépan wegen unserer Bindung erklärt hat?“ Dunkel. „Dass ihr euch nicht einmischen könnt, wenn es um Rudelangelegenheiten geht. Weil ich nach wie vor Alans Gefährtin bin, obwohl ich nicht mehr zum Rudel gehöre.“
„Richtig. Wie kann ich es dir erklären, dass du es verstehst? Ich…“ Roman dachte angestrengt nach. Ich konnte es an den Runzeln auf seiner Stirn sehen. Etwas, was sonst nie geschah. „Sobald etwas eintritt, was dich und Alan oder dich und das Rudel betrifft, existierst du in dem Moment nicht für uns. Als gäbe es dich nicht. Verstehst du, was ich damit sagen will?“ Äh… nicht wirklich. Meinte er, dass er sich dann nicht an mich erinnerte?
Sein vorsichtiges Nicken entsetzte mich.
„Echt? Warum? Ich meine, du kannst mich doch nicht einfach vergessen? Was, wenn ich in dem Moment direkt neben dir sitze?“ Roman zuckte mit den Achseln. „Es wäre, als ob eine Fremde neben mir sitzt. Obendrein könnte ich nicht eingreifen. Selbst wenn ich wollte. Nur… Vampire helfen keinen Fremden. Ich könnte dich allerdings auch nicht verletzten, wenn du zum Beispiel zu dem Zeitpunkt in meiner Nähe wärst. Wegen der Bindung. Alles unbewusst. Nicht beeinflussbar.“ Ich nickte vorsichtig. Ganz entfaltete sich mir der Sinn nicht. „Was ist mit Zwang? Ist doch auch ein Rudelding. Dennoch funktioniert er bei mir nicht mehr.“
„Ich verstehe es selbst nur ansatzweise und weiß nicht, wie ich es dir begreiflich machen kann.“ Konnte ich nachvollziehen. Ich verstand schon das Erzählte nur ansatzweise. Wohl, weil ich es nicht verstand.
Paradox.
„Damit ich das richtig verstehe: Sollte Alan mich angreifen, könntest du nichts dagegen unternehmen, weil dich irgendeine Art – sagen wir Kodex – mit Augenbinde und Ohrenstöpsel versorgt?“ Roman nickte. Lächelte schwach. „So in etwa. Ja.“ Na das klang doch einfach fantastisch. „Aber du könntest mich rächen. Danach.“
„Das, meine liebe Sam, könnte ich.“ Puh! Immerhin etwas. „Aber ich darf ihn nicht töten. Nicht wegen dir. Nicht einmal dann, wenn er dich ernsthaft verletzt oder gar umbringt.“ Was? Gut, tot wäre ich dann sowieso.
Aber hallo?
„Warum nicht?“ Roman sah mich an. Sehr intensiv. Mit einem Blick, der besagte, dass mir seine Antwort nicht gefallen würde. „Als seine Gefährtin bist du Alans Besitz. Sein Eigentum. Du gehörst ihm.“ Ich schluckte. Hart. Empörung war zu wenig für das, was ich empfand. „Allerdings gilt das Gleiche für Alan. Er ist dein Besitz.“ Na bitte – das klang schon viel besser. Obwohl ich der Ansicht war, dass niemand irgendwem gehören sollte. Andererseits: Hieß das, ich konnte ihm ein Halsband anlegen und ihn Gassi führen?
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