Sie schauen sie an. Sie sieht nicht sehr gut aus. Überhaupt nicht gut. Bernd weiß aber, dass er ihr das nicht sagen darf. Er darf sie nicht zum Wagen zurück schicken.
„Schuldigung.“ Sie sucht in ihren Taschen.
Bernd reicht ihr ein Taschentuch.
„Rache. Leidenschaft. Wut. Spaß. Krank. Was weiß ich“, seufzt Dr. Wilder. „Die Welt ist voller Irrer. Ihr müsst sie finden, nicht ich. Ich sag euch nur, was mit der Leiche passiert ist, bevor sie zur Leiche wurde, ihr müsst herausfinden, wer das gemacht hat, ihr, nicht ich. Ich lese nur Leichen.“
Er hört sich tatsächlich erleichtert an. Irgendwie jedenfalls.
„Ist er bestraft worden? Mafia? Hinrichtung?“, fragt Bernd.
„Strafe ist durchaus möglich, aber Hinrichtung eher unwahrscheinlich. Dafür hat es wohl zu lange gedauert.“
„Ein Exempel?“, fragt Kim.
„Hier draußen im Wald?, fragt Dr. Wilder. „Eher nicht. Kein Publikum. Keine Öffentlichkeit. Hier“, sagt er mit einer ausladenden Geste, „hier ist er kein abschreckendes Beispiel.“
„Todesursache?“, fragt Bernd.
„Kann ich bei der Fülle von Verletzungen noch nicht sagen. Vermutlich alles zusammen. Die einzelnen Wunden und Verletzungen waren für sich genommen nicht tödlich. Sollte vermutlich auch nicht tödlich sein. Keine Schussverletzungen, keine tiefen Stiche, zumindest keine tödlichen ... Todesursache? Herzstillstand, Kreislaufzusammenbruch, Schock, Blutverlust, vermute ich, so was in der Art.“ Er stockt. „Und“, er überlegt. „Vielleicht noch zu früh, aber mit seiner Haut ist etwas.“
„Ja?!“
„Gut, eine Leiche ist immer blass. Aber diese hier wurde bereits vor dem Tod Licht entzogen.“
„Was?“
„Ich vermute, er befand sich über einen längeren Zeitraum im Dunkeln. In einem Keller oder einer ... ist weiß nicht ...Kiste?“
„Mhm.“
„Er sollte leiden.“
Kim dreht sich zu Bernd um. In seiner Stimme hört sie einen merkwürdigen Unterton.
„Ja. Mit Sicherheit ... Der ... “, Dr. Wilder nickt in Richtung Leiche, „der sollte leiden. Ja. Der sollte richtig leiden. Und er hat gelitten.“ Die letzten Worte sagt er mehr zu sich selbst. Als fühlt er den Schmerz. „Der ist bestraft worden.“
„Das heißt, der Täter oder die Täter ...“, sagt Bernd und wird von Kim unterbrochen.
„ ... oder Täterin.“
Bernd starrt sie an.
„Ja, klar, kann sein“, sagt Dr. Wilder. „Kastration. Männerhass. Warum nicht?“ Er kann nicht mehr ernst bleiben und grinst. „Auch Frauen können auf diesem Spielfeld sehr erfindungsreich sein und Fantasie zeigen. Und ausdauernder, geduldiger.“
Kim starrt ihn an.
„Was?“, fragt Dr. Wilder und räuspert sich.
„Also“, versucht es Bernd noch einmal. „hier hat sich jemand richtig Zeit gelassen?“
„Ja.“
„Über einen längeren Zeitraum?“
„Vermutlich. Es gibt mehr oder weniger frische Verletzungen und ältere, fast schon geheilte Verletzungen.“
„Ungefähr?“, fragt Bernd.
„Auf den ersten und oberflächlichen Blick: drei, vielleicht vier Wochen. Oder länger.“
„Ach, du Scheiße“, stößt Kim hervor. Sie würgt wieder. Schluckt.
„Wurde er zwischendurch, äh, ernährt?“, fragt Bernd.
„Kann ich noch nicht sagen. Die Leiche ist aber sehr dünn, fast schon abgemagert. Wenn überhaupt, wurde er am Leben gehalten. Zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben.“
„Und wie lange ist er schon tot?“, fragt Kim.
„Das wären nur Vermutungen.“
„Vermuten Sie“, fordert Bernd, der Dr. Wilder wegen seiner Zuverlässigkeit schätzt.
„Wie gesagt“, er räuspert sich, „er ist nicht hier getötet worden. Aber ich würde sagen er ist bereits seit achtundvierzig Stunden tot. So lange liegt er hier jedoch noch nicht. Vielleicht vierundzwanzig Stunden, vielleicht weniger, in keinem Fall mehr.“
„Das heißt“, sagt Bernd, „es müsste irgendwo einen Ort geben, der noch ziemlich übel aussieht, mit viel Blut und so?“
„Vermutlich. Oder jemand hat schnell sauber gemacht und aufgeräumt.“
„Hm“, brummt Kim. „War die Leiche verdeckt, also versteckt, meine ich?“
„Nein.“
„Sie lag hier offen rum?“, fragt Bernd.
„Ja.“
„Sie sollte gefunden werden?“, fragt Kim.
„Alles spricht dafür. Zumindest hat der Täter sich darum nicht gesorgt. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, sie zu verstecken. Es war ihm egal.“ Dr. Wilder räuspert sich. Und niest. „Es war ihm egal.“ Er niest noch einmal. Und räuspert sich wieder.
„Erkältet?“, fragt Bernd.
„Nein. Allergie.“
Sie schauen ihn fragend an.
„Moos, Gräser, die ganze Scheiße hier ist nichts für mich. Ich bin eindeutig ein Stadtmensch. Ich brauche die Errungenschaften der Zivilisation, nicht diese Scheiße hier. Natur gucke ich mir im Fernsehen an. Da kann sie einen auch nicht beißen.“
„Wer braucht das hier schon?“, fragt Kim, mehr sich selbst als Dr. Wilder oder Bernd.
„Vielleicht wollte Sie ja jemand ärgern“, lacht Bernd.
„Dann hat er es geschafft.“ Dr. Wilder lacht mürrisch.
„Ist hier vielleicht jemand unterbrochen worden?“, fragt Bernd. „Beim Entsorgen der Leiche, meine ich.“
Dr. Wilder zuckt mit den Schultern.
„Unwahrscheinlich, dass jemand zurückkommt und weiter machen will, wenn Sie darauf spekulieren.“
Bernd lacht nicht.
„Nein“, fährt Dr. Wilder fort. „Die Leiche sollte so liegen. Sieht fertig aus.“
„Gibt es irgendetwas an oder bei der Leiche, das nicht zu ihr gehört?“, fragt Kim.
Dr. Wilder schaut sie an.
„Nein, keine Kleidung, kein Ausweis, nichts. Wir wissen nicht, wer er ist, oder besser war. Auch keine Souvenirs. In der Art wie sie Künstler hinterlassen.“
„Aber ein Kunstwerk ist das doch nicht gerade“, meint Kim trocken.
„Nein“, sagt Dr. Wilder, „hier war kein Künstler am Werk, er wollte uns nichts mitteilen. Dieser Mann ist einfach nur langsam und grausam so lange gequält worden bis er tot war. Und dann hierher gebracht worden. Warum hier? Keine Ahnung.“
„Er war bereits tot als er hierher gebracht wurde“, sagt Kim.
„Ja.“
„Irgendetwas in der näheren Umgebung?“, fragt Bernd.
„Nein, nichts. Nur er und der Wald. Kein Suchspiel, keine Schnitzeljagd. Wir haben bereits alles abgesucht.“
„Und die Tüte.“ Ergänzt Kim.
Bernd starrt sie kurz an.
Das Leben passt gelegentlich in eine Plastiktüte. Oder auch der Tod.
„Und irgendetwas Ungewöhnliches, abgesehen davon, in welchem Zustand sich die Leiche befindet?“
„Nichts Sichtbares, nichts Äußerliches, aber ich habe noch nicht innen nachgeschaut, das geht hier nicht. Vielleicht finden wir in seinem Körper, im Magen oder der Lunge etwas Interessantes. Vielleicht die Telefonnummer und die Adresse des Mörders.“
„Das wäre dann das erste Mal“, sagt Kim.
„Ja?“, fragt Dr. Wilder.
„Danke, fürs erste“, sagt Bernd und nickt Kim zu.
„Sie melden sich“, fügt Kim hinzu.
„Wie immer.“
„Der Bericht ...“, sagt Bernd.
„ ... liegt auf ihrem Schreibtisch.“
„Danke“, sagen Bernd und Kim gleichzeitig.
Sie machen sich auf den Weg.
Sie hören ihn noch einmal niesen. Und fluchen.
Sie lachen leise. Und wissen doch beide, dass nichts, was hinter ihnen liegt, lustig ist. Vermutlich auch nicht das, was jetzt vor ihnen liegt.
Die Befragung des Försters, der die Leiche gefunden hat, ergibt nichts Wesentliches mehr. Nur, dass sich in diese Gegend eigentlich niemand verirrt, der hier nicht sein will. Naturschutzgebiet. Ein paar Wanderer. Biologen. Keine Reifenspuren in der unmittelbaren Umgebung des Fundortes. Keine eindeutigen, definitiven Fußspuren.
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