Leck mich, denkt Bernd, leckt mich doch einfach am Arsch. Wer war hier das größere Schwein? Die Leiche oder der Täter? Da war jemand wütend. Was hast du getan? Dass jemand so sauer auf dich war? Sags mir! Komm sprich zu mir. Was hast du nur getan?
Liegt einfach nur da. Denkt Bernd weiter. Abgelegt. Entsorgt. Unpersönlich. Aber irgendwie friedlich.
Sollte entdeckt werden. Denkt er.
Er schaut zu Kim. Sie zuckt mit den Schultern. Sieht auch nichts. Aber nicht, weil sie nichts sieht, sondern weil ihr nichts entgeht.
Bernd hebt den Kopf. Schaut nach oben.
„Es ist so ... still ... hier.“ Er dreht sich im Kreis. „So still.“ Er schließt die Augen. Riecht den Wald. Frisch und vermodert zugleich.
Leben und Tod, denkt er, nebeneinander, ineinander verwoben. Aufeinander angewiesen. Tod und Leben. Anfang und Ende. Geben und Nehmen. Ewiger Kreislauf.
Dein Grab ist der Wald, denkt Bernd. Der Wald ist ein Grab.
Kim folgt seinem Blick und seiner Geste. Und lauscht.
„Diese Stille“, sagt sie, „diese Stille kann einem Angst machen ... so was gibt es in Berlin doch gar nicht mehr.“ Sie denkt nicht nur an Berlin. Kann es nicht verhindern ...
... es knackst. Sie zuckt zusammen. Einer der Beamten, die das Gelände absuchen ist auf einen Ast getreten. Er zerbricht.
Sie kann es nicht verhindern ...
... es kommt. Schneller und wuchtiger als sie gedacht hätte.
Still! Denkt sie. Sei still. Sag nichts. Sag bloß nichts. Sonst bist du tot. Keine Bewegung. Keinen Laut.
Dr. Wilder schaut auf und schüttelt den Kopf. Er kennt das ja schon. Was für Vögel, denkt er.
„Nein“, sagt Bernd. Nicht einmal in den Träumen, denkt er. Nicht einmal in den Träumen ist es so still.
„Nur das Rauschen der Blätter.“ Sagt sie und schließt die Augen. „Der Wind. Der Atem der Bäume.“
... es ist da. Packt sie. Nimmt sie mit. Sie wehrt sich nicht. Weil sie sich sonst verraten würde. Sie will nicht gefragt werden.
Sie folgt den Bildern, der Erinnerung, allein im Wald zu sein.
Allein und sicher.
... sie rennt durch den Wald. Lacht. Springt über einen Baumstamm. Stolpert. Fängt sich. Läuft weiter. Sie ist wieder ein Kind. Ein kleines Mädchen. Vielleicht zehn Jahre alt. Sie lief gern durch den Wald. Allein. Es gab eine Zeit als Kind, da lief sie gern durch den Wald. Sie und der Wald. Der Wald und sie. Sie freute sich, genoss den weichen Waldboden, die Geräusche und das Licht. Den Geruch und die Schatten. Den Duft. Breitete die Arme aus, lauschte ihren Schritten auf dem weichen Waldboden. Lauschte den Zweigen, dem Wind, den Vögeln und dem Boden. Und ihrem Atem. Bemühte sich lautlos zu sein. Legte sich auf den Boden, das Gesicht ins weiche Moos gepresst, bis sie kaum noch Luft bekam. Roch den Wald. Sie roch das Leben, das werdende Leben im Wald, damals roch sie noch das Leben in ihm. Drehte sich um, auf den Rücken und schaute durch die Äste, Zweige und Blätter hindurch in den blauen Himmel. Bis sich der Atem wieder beruhigte. Licht und Schatten. Schatten und Licht, wenn die Sonne mit den Blättern spielte. Hindurch drang, zu ihr hinunter auf den Waldboden. Ihre Nase kitzelte. Sie streichelte. Warm und zärtlich ihre Haut berührte, ohne sie anzufassen. Die Sonne. Sie berührte sie, tat ihr aber nicht weh. Nein, nicht die Sonne tat ihr weh. Die Sonne erreichte sie ohne sie zu berühren. Und wärmte oder kitzelte sie, angenehm auf der Haut. Die Sonnenstrahlen streichelten sie.
Dann hörte sie das Knacken. Schritte. Zweige knackten. Dumpfe Schritte. Ihr Körper spannte sich an. Instinktiv. Sie hob den Kopf, drehte ihn etwas und sah die Bewegung. Den Schatten. Sie erkannte ihn. Sofort. Und sie spannte sich an ...
Nur nicht auffallen, dachte sie, nicht bewegen. Nicht auffallen, er darf dich nicht sehen.
Wie konnte er mich nur finden? Ich war doch still, ich habe mich doch nicht bewegt. Und doch ...
Werde zum Wald, dachte sie, sei der Waldboden. Das Laub, ein Ast. Der Wind oder das Rauschen des Windes in den Blättern. Sonst kommt er und berührt dich. Und du berührst ihn. Auch wenn du es nicht willst. Er will es. Er will, dass du ihn berührst. Und er will dich berühren. Lieb sein. Er will immer lieb sein, so sagt er. Lieb. Und dann soll sie lieb sein. Lieb sein zu ihm.
„Ich bin doch auch lieb zu dir“, flüsterte er, „lieb“ und röchelte atemlos. Stöhnte widerlich und seufzte, Speichel tropfte von seinen Lippen.
Die Schritte kamen näher. Sie hörte seinen Atem. Dumpfe Schritte auf dem Waldboden, der nicht alles verschluckte. Sie hatte gelernt zu hören. Und zu ahnen. Stimmungen zu spüren. Erregung und Gier zu wittern.
Er hatte sie gefunden.
Sie hasste den Wald.
„Kim“, rief er flüsternd. „Kim, komm! Komm her zu mir.“
Sie hasst den Wald. Noch immer. Und immer wieder.
„Sei still“, flüsterte er, „sei still“, und legte seine Hand auf ihren Mund.
Sie zappelte, bekam keine Luft. Panik. Angst, bekam immer weniger Luft. Zappelte mehr. Strampelt mit den Beinen. Doch das Gewicht seines Körpers war zu groß. Einem Riesen gleich. Es war ein Riese. Ein riesiger Dämon. Er war ein Riese. Kein Dämon in ihr, sondern ein Dämon auf ihr ... und dann doch, ja, in ihr ... und diese Schmerzen ...
„Schsch, sei still, sei brav, sei ein liebes ... Mädchen ...“, flüsterte er, und stöhnte schon, wie immer, bemüht sanft und zärtlich zu sprechen, doch sie hörte den Dämon in seiner Stimme. Und er zerrte an ihren Sachen. Zerrte an ihr. Ungeduldig. Gierig. Der Dämon war gierig.
Dass es wehtat. Bis es wehtat. Er zerrte an ihr.
Sie musste würgen, bekam kaum Luft. Zitterte.
„Nein, du brauchst keine Angst zu haben, schsch, ich bin ganz lieb. Hab ... keine ... Angst ... ich tu dir nicht weh ...“ Stöhnte er.
Sein Atem roch.
Seit dem ist sie auf der Suche. Deswegen ist sie Polizistin. Weil sie auf der Suche ist, weil sie es verstehen will. Wenn es denn etwas zu verstehen gibt.
„Kein Wort“, sagte er und atmete schwer und schaute sich um, „kein Wort, zu niemandem.“ Seine Augen zuckten nervös hin und her, danach. Er schaute sie nicht an. „Zu niemandem, sonst kommen sie dich holen. Und sie, sie wird weinen. Weil du so böse warst.“ Er schluckte, zog die Hose hoch, nestelte an seinem Reißverschluss, hektisch. „Du bist Schuld“, zischte er, „du bist schuld, weil du böse bist ... du bist schuld, wenn sie weint. Du Miststück, du kleine Hexe.“
Er lachte.
Sie spürt nicht einmal die Anwesenheit der beiden Männer, die in ihrer unmittelbaren Nähe stehen. Es fühlt sich an als hätte sie Watte in den Ohren oder einen Kopfhörer auf, der die Geräusche schluckt. Allein, und, sicher? Schritte, sie hört Schritte hinter sich, die näher kommen. Schnell. Schneller. Näher. Sie spürt den Atem in ihrem Nacken. Dreht sich um. Und schaut in sein Gesicht.
Sie reißt die Augen auf. Hebt den Arm. Bereit.
„Nein!“, schreit sie.
„Was?“
Sie kennt das Gesicht. Sie kennt die Stimme.
Bernd. Ihr Kollege. Bernd.
Es ist nur Bernd. Denkt sie schnell. Erkennt ihn. Nur Bernd?
„Alles klar?“, fragt er. Und will bereits den Arm nach ihr ausstrecken, sie berühren.
„Ja.“
Sie weicht zurück. Instinktiv.
Und er sieht es in ihren Augen. Und lässt den Arm sinken. Er kommt nicht an sie heran. Noch immer nicht.
„Sicher?“
„Ich mag den Wald nicht“, flüstert sie und hasst sich dafür, es gesagt zu haben. Sie will das nicht sagen. Das geht niemanden etwas an. Niemanden. Sie will es nicht sagen.
Still!, denkt sie, sei still. Sei bloß still, sonst kommt der Schatten. Er holt sich, was böse war. Er holt dich, weil du böse warst. Und schmutzig. Der Dämon kommt und holt dich, er schneidet dich von oben bis unten auf und mästet sich an dir ... weil du böse warst. Er lebt, weil du böse warst.
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