„Da tut es besonders weh“, stöhnte sie, „da muss du ganz lieb sein.“
Sie drehte sich auf den Rücken und Michael legte seinen Kopf auf ihren Bauch, schloss die Augen und rieb seine Mutter zwischen den Beinen. Er hörte, wie sie stöhnte, er hörte, wie es in ihrem Bauch gluckerte, er spürte, wie ihr Bauch zitterte, wie sich ihre Bauchdecke hob und senkte und sich anspannte.
Sie legte eine Hand auf seinen Kopf. Und fuhr ihm durchs Haar. Er mochte das. Aber jetzt hätte er sich gern wieder angefasst, das konnte er so aber nicht.
Plötzlich schloss seine Mutter ihre Beine, presste sie zusammen, er konnte seine Hand nicht mehr wegziehen. Sie stöhnte auf, zuckte mit den Hüften und dem Hintern, griff fest in seine Haare und weinte los.
Nachdem sie eingeschlafen war, richtete er sich auf und schaute seine schlafende Mutter an.
Er schämte sich, wusste aber nicht, warum.
„Ich bin auch manchmal gierig“, wiederholte der Mann, „nicht nur nach Schokolade.“ Er schaute Michael an.
Er wollte ihm schon seine Schokolade anbieten. Aber der Mann schaute nur merkwürdig. Er kannte diesen Blick irgendwoher.
„Alle sind gierig“, sagte der Mann mit heiserer Stimme, „irgendwann, nach irgendetwas. Oder irgendwem. Überall. Immer.“ Er flüsterte.
Sein Lächeln war ein Grinsen geworden. Seine Augen starrten durch Michael hindurch. Er schien etwas zu sehen, dass Michael nicht sehen konnte.
Er hob seinen Arm und legte seine Hand auf Michaels Schulter. Die Hand wanderte von der Schulter zu seinem Hals und weiter zu seiner Wange. Er berührte Michaels Gesicht mit den Fingerspitzen.
„Alle sind gierig“, sagte er noch einmal, seine Stimme war rau und heiser, „alle.“ Er schaute Michael an. „Sei gierig“, meinte er wieder lächelnd, jetzt schaute er auch wieder freundlich und aufmunternd.
Aber irgendetwas in dieser Stimme passte nicht, auch in seinen Augen war etwas, das Michael nicht kannte. Er verwirrte ihn, machte ihm Angst.
„Bekomme ich auch ein Stück?“, fragte er.
Michael reichte ihm die Schokolade, ohne zu zögern
Der Mann nahm die Tafel und brach sich einen Riegel ab. Er gab sie Michael zurück und biss zwei Stücke auf einmal ab.
Michael beobachtete ihn. Er Ließ sie nicht im Mund zergehen, sondern zerkaute sie.
„Hm“, brummte der Mann, „lecker.“
Er schien die Schokolade nicht wirklich zu genießen. Michael wusste, Schokolade musste sich allmählich auflösen. Im Mund. Sie musste warm werden.
„Ich lutsche die Schokolade immer, zuerst, dann schmeckt sie noch besser als beim Kauen. Kauen geht zu schnell.“
„Ja?“, fragte der Mann interessiert und gluckste, „du lutschst gern?“
„Ja.“
„Das ist gut“, freute sich der Mann, „das ist sehr gut. Ich mag das auch, lutschen. Manchmal mag ich lutschen sogar sehr gern.“ Er schaute ihn an. „Jetzt zum Beispiel. Jetzt mag ich lutschen.“
Er stopfte sich auch die beiden anderen Stück in den Mund und legte seine Hand wieder auf Michaels Schultern.
„Danke“, sagte er und kaute.
Die Hand lag jetzt schwerer auf Michaels Schulter. Während der Mann kaute, spürte er, wie die Hand fester zupackte.
„Gier“, flüsterte der Mann. „Gier und Neid.“ Er schloss die Augen. „Gott, bin ich gierig.“
Michael spürte den Schmerz.
„Iß“, sagte der Mann. „Iß.“ Er schaute Michael an. „Ich hab noch was ganz Leckeres für dich. Noch besser als Schokolade.“
Er lächelte.
„Komm“, sagte er, „komm, ich zeigt dir was.“
August 2004: Lisa, auf dem Feld hinter dem Haus
Erdbeeren. Sie war sich sicher. Es waren Erdbeeren. Sie roch Erdbeeren.
Lisa brauchte den Kopf nur leicht zu drehen und sah sie. Ein Körbchen voller roter Erdbeeren. Beim Anblick hatte sie sofort den Geschmack von Erdbeeren auf der Zunge. In der Wärme der Sonne verbreiteten sie ihren einzigartigen Duft noch intensiver. Fast hätte sie schon zugegriffen, ohne darüber nach zu denken, woher die Erdbeeren gekommen waren, da bemerkt sie den Schatten neben sich. Bevor sie sich umdrehen konnte, sah sie eine Hand, dann einen Arm neben sich auftauchen. Die Hand griff in das Körbchen, nahm eine Erdbeere und hielt sie Lisa hin.
Sie starrte die Frucht an. Dann drehte sie sich um und sah einen Mann, der seitlich hinter ihr stand.
„Erdbeeren“, sagte sie. Und zögerte danach zu greifen.
Der Mann lächelte.
„Die magst du doch so gern“, sagte er mit dunkler Stimme. Er sprach langsam und deutlich. „Ich weiß, dass du sie magst“, fügte er hinzu.
„Ja“, sagte sie, obwohl Lisa nicht hatte antworten wollen.
Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.
Mutter hatte gesagt, dass sie niemals mit Fremden sprechen sollte, und dass sie niemals etwas von Fremden annehmen sollte. Schon gar nicht von fremden Männern.
Doch das Gesicht des Mannes, der hinter ihr stand, kam ihr bekannt vor. Irgendwoher kannte sie diesen Mann. Ihr fiel nur nicht ein, woher.
„Ich mag die auch“, sagte er, lächelte und bewegte seine Hand näher zu Lisas Mund.
Sie zögerte noch immer. Seine Finger kamen näher.
„Die sind gut“, sagte er und schaute sie an als würde er nicht verstehen, dass sie noch immer zögerte. Noch immer nicht den Mund geöffnet hatte, noch immer nicht zugebissen hatte.
Lisa zögerte.
Sie drehte den Kopf weiter und sah sich um. Niemand zu sehen. Sie waren allein.
„Na gut“, seufzte der Mann, „dann eben nicht“, sagte er und steckte sich die Erdbeere in den Mund.
„Hm“, brummte er, „die sind wirklich gut.“
Sie schaute ihm beim Kauen zu.
Lisa hatte ihn nicht kommen hören und nicht gesehen, woher er gekommen war. Sie hatte erst bemerkt, dass jemand in ihrer Nähe war, als sie die Erdbeeren roch. Erst der süße, intensive und köstliche Duft der Erdbeeren hatte sie in ihrem Spiel unterbrochen.
„Wer bist du?“, fragte Lisa.
Der Mann lächelte und steckte sich eine weitere, große Erdbeere in den Mund. Er biss zu noch bevor er die Lippen schloss. Roter Saft spritzte aus dem Fruchtfleisch und lief ihm über die Lippen und das Kinn.
„Ich bin der, der Erdbeeren mag und diejenigen, die Erdbeeren mögen“, sagte er und leckte sich über die Lippen. Er wischte sich mit dem Finger übers Kinn und steckte den Finger in den Mund, um ihn genüsslich abzulecken. Er schloss dabei die Augen.
Lisa starrte ihn an. Und sah dabei, wie sich seine Lippen um den Finger schlossen und daran lutschten und saugten. Sie sah auch, wie sich die Muskeln unter der Haut seines Kiefers bewegten. Er kaute und zerkleinerte die Frucht in seinem Mund.
Sie schaute auf den Korb.
Er bemerkte ihren Blick.
Und lächelte.
„Los“, forderte er sie mit dem Augen zwinkernd auf, „bedien dich, nimm soviel wie du willst, es sind genug da. Es reicht für uns beide. Du bist doch ein liebes, braves kleines Mädchen. Nimm. Iß. Für liebe, brave kleine Mädchen haben ich immer etwas übrig.“
Lisa streckte die Hand aus und nahm eine große Erdbeere.
Schon auf dem Weg zum Mund roch sie den Duft der Erdbeere. Ihre Zunge wusste bereits, wie es schmecken würde. Sie schloss die Augen als sie zubiss und die Erdbeere auf der Zunge schmeckte.
Sie öffnete aber schnell wieder die Augen, weil sie sehen wollte, ob noch genug Erdbeeren da waren. Wenn Mutter Erdbeeren kaufte, blieben für jeden immer nur ein paar. Ihr wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken an die vielen Erdbeeren, die sie noch essen würde. Ganz schwindlig.
Erdbeeren. So viele, für sie, für sie allein.
Er schaute ihr dabei zu, wie sie eine Erdbeere nach der anderen in ihren Mund schob und die Früchte genüsslich zerbiss und auf dem Fruchtfleisch herum kaute.
Er sah die Gier in ihren Augen, das Verlangen.
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