„Wenn ich mich nicht mehr bewegen soll, muss ich auch den Atem anhalten und irgendwann umkippen“, entgegnete der Einbrecher frech. „Vielleicht solltest du es mit Hände hoch und keinen Schritt weiter! versuchen.“
Bobby schüttelte verwirrt den Kopf. „Okay, dann: Hände hoch und keinen Schritt weiter!“
„Ich will aber nicht“, entgegnete der Einbrecher, stützte sich auf den Schreibtisch auf und sprang ab. Gerade als Bobby schon befürchtete, der Mann würde sich auf ihn stürzen, blieb dieser mit dem Fuß an der Tischkante hängen. Fluchend knallte er vor Bobby auf den Boden. Der Einbrecher blickte auf, und der junge Wachmann wurde einen kurzen Augenblick von dessen smaragdfarbenen Augen eingefangen. Es war wie ein kurzer Impuls, der in seinem Innern ausgelöst wurde, und Bobby schlug so fest er konnte mit dem Lesegerät zu. Der Einbrecher sackte in sich zusammen. Ein dünnes blutrotes Rinnsal sickerte aus der Platzwunde auf seiner Stirn.
Bobby drückte triumphierend den Knopf des Funkgerätes.
„Hier Bobby“, sagte er entschlossen. „Eindringling im Büro von Dr. Clark.“
„William! Steven! Kümmert euch darum!“, befahl Charles unverzüglich und fügte in beinahe väterlichem Ton hinzu: „Halt dich erst mal zurück, Kleiner.“
„Zu spät“, entgegnete Bobby triumphierend. „Hab ihn niedergeschlagen, als er flüchten wollte.“
Der Funk schwieg, und Bobby blieb nichts anderes übrig, als auf William und Steven zu warten. Zeit, sich den ungebetenen Gast etwas genauer anzusehen. Er schaltete das Licht ein und ging neben dem Mann in die Hocke. Im Hellen betrachtet, erschien ihm der Typ noch verrückter als er zuvor angenommen hatte. Seine Gesichtszüge waren eindeutig europäisch, doch seine schwarzen Haare hatte er, wie die Chinesen in alten Kung- Fu- Filmen, zu einem langen Zopf geflochten. Aber das war nicht das einzige, was ihm kurios vorkam. Auch der optische Gesamteindruck war schon nahezu schmerzhaft: Ein himmelblaues Schnürhemd, braune Wildlederhosen und ausgelatschte neongelbe Converse-Turnschuhe.
„Mann, du kriegst doch mit Sicherheit einmal am Tag eine auf die Fresse, wenn du dich so auf die Straße traust“, murmelte Bobby belustigt.
Der Einbrecher antwortete nicht, sondern lag noch immer reglos am Boden. Bobby erhob sich wieder und sah seinen beiden Kollegen entgegen, die eben aus dem Treppenhaus in den Flur traten. Gespannt wartete er auf die anerkennenden Blicke und Bemerkungen, auf ein Schulterklopfen. Doch nichts dergleichen geschah. Die beiden schoben sich an ihm vorbei, ohne ein Wort zu sagen. William überprüfte Atmung und Puls des Einbrechers, bevor er Steven zunickte und sie ihn rechts und links an den Oberarmen griffen und einfach den Flur hinunter schleiften. Bobby folgte ihnen in einigem Abstand. Er war sauer! Er hatte sich vollkommen unbewaffnet einem Einbrecher in den Weg gestellt und ihn bezwungen. Keiner schien sich dafür zu interessieren.
Sie brachten den Einbrecher ins Treppenhaus und trugen ihn eine weitere Etage nach oben, wo Charles bereits auf sie wartete. Bobby war bisher noch nie hier gewesen, und mehr als einen Fahrstuhl schien es auch nicht zu geben. Charles legte seinen Daumen auf einen Scanner neben der Fahrstuhltür, die sich daraufhin zur Seite schob.
„Musst du nicht deine Runde beenden, Kleiner?“ Es war mehr ein Befehl als eine Frage, und der junge Wachmann beobachtete empört, wie die drei mit seinem Einbrecher den Fahrstuhl bestiegen.
„Aber …“ Bobby suchte nach den richtigen Worten.
„Deine Runde !“, herrschte Charles ihn an. Die Tür begann sich zu schließen, und Bobby, der den schlaff zwischen William und Steven hängenden Einbrecher nicht aus den Augen gelassen hatte, sah, wie dieser die Augen öffnete und ihm mit einem breiten Grinsen zuzwinkerte.
Der Fahrstuhl fuhr hinab in das zweite Untergeschoss. Charles trat als erster auf den Gang hinaus. Der unterirdische Komplex zog sich in einem Irrgarten aus rechtwinklig angelegten Gängen durch das gesamte Gelände. Zwischen ihnen befanden sich die unterschiedlichsten Laboratorien, Büros, Lager und Überwachungsräume. Die meisten davon waren rundum verglast, und die unzähligen Überwachungskameras machten es hier unten nahezu unmöglich, sich unbemerkt zu bewegen. Über jeder Kreuzung hing ein Schild mit einem Code aus Zahlen und Buchstaben, die den Eingeweihten den richtigen Weg wiesen. Alles hier unten erstrahlte im kalten, sterilen Weiß, und der Geruch nach Phenol hing überall in der Luft.
Doch die sterile Kälte und die Ausdünstungen der Chemikalien waren nicht der eigentliche Grund, weshalb sich die Wachmänner hier unten so unwohl fühlten, oder die Menschen, die hier arbeiten mussten mit der Zeit so abstumpften, dass man sie beinahe als seelisch tot bezeichnen konnte. Es waren die merkwürdigen Geräusche, die keinen Ursprung zu haben schienen. Unmenschlich klingende, qualvolle Laute, die weniger in den Gängen widerhallten, sondern sich in die Tiefen des Unterbewusstseins hineinfraßen und tagelang festsetzten. Manchmal konnte man aus dem Augenwinkel heraus, oder im spiegelnden Glas eine menschliche Gestalt erkennen, die genauso plötzlich wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war. Kurze Schreckmomente, die bei den einen schnell vorbeigingen und bei anderen dazu führten, dass sie heimlich Dr. Clark ihre Kündigung auf den Tisch legten und bei Nacht und Nebel verschwanden.
Sie schleiften den Einbrecher die Gänge entlang, wobei sie mehrmals nach rechts oder links abbogen und schließlich vor einem von Panzerglas umgebenen Untersuchungszimmer stehenblieben, an dessen Rückseite ein Überwachungsraum mit verspiegelter Scheibe angrenzte. In seiner Mitte war eine Art Behandlungsstuhl im Boden verankert. Er bestand vollständig aus kaltem Industriestahl, hatte keinerlei Polsterung, und an Armlehnen und Fußstützen waren dicke Bänder aus Polyester mit doppelseitigem Klettverschluss befestigt. Eine Art Küchenzeile umrundete den ganzen Raum, wobei an der linken Seite einer der Unterschränke fehlte und so Platz für einen provisorischen Schreibtisch bot. Eigentlich könnte man sagen, dass hier alles vorhanden war, was man in jedem gut ausgestatteten Arztzimmer finden konnte, wenn man mal von der unbequemen Sitzgelegenheit für den Patienten absah. Charles öffnete die Tür mit einer Chipkarte und trat beiseite. Dem Phenol mischte sich der starke Geruch von Formaldehyd hinzu.
William und Steven schleiften ihren Gefangenen zum Stuhl, wuchteten ihn hoch und schnallten ihn fest, während Charles an der Tür stehen blieb und, mit der Hand am Pistolenholster, wartete.
„Vergesst nicht, ihn zu durchsuchen“, wies Charles seine Männer an, die sich umgehend um den Inhalt von dessen Taschen kümmerten. Neben einem zerknitterten Einkaufszettel, ein paar Pfundnoten und einer Tüte Gummibärchen, entdeckten die geübten Blicke der Sicherheitsmänner noch einige Verdickungen an seinem Gürtel. Erst bei näherer Untersuchung förderten sie einige kleine Wurfmesser ans Tageslicht, die in das Leder eingenäht waren, und durch eine winzige Drahtschlinge nach oben heraussprangen. Steven warf dem Gefangenen einen beeindruckten Blick zu.
„Blöd ist der Kerl nicht“, murmelte er. „Ich kenn solche Vorrichtungen ja für die Unterarme, und am Gürtel hab ich sie auch schon gesehen, aber so …“
William warf alles auf die Ablage und nickte Charles zu.
„Was hat Dr. Clark gesagt?“, fragte Steven. „Kommt er her?“
Charles nickte. „Er war nicht gerade erbaut darüber, dass der Kerl es bis in sein Büro geschafft hat. Ich fürchte, Bobby wird sich wohl noch einiges anhören dürfen.“
„Aber immerhin hat er ihn ja noch geschnappt“, beschwichtigte William. Auch wenn er sich gerne über den Jungen lustig machte, der aufgrund seiner mangelnden Erfahrung von einem verbalen Fettnäpfchen ins andere stolperte, hatte Bobby doch einiges an Courage bewiesen.
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