Eine Stunde später schlenderte Steve die Citadel Road hinunter. Er freute sich bereits auf ihr Gesicht, wenn er ihr den hübschen Strauß überreichte, und grübelte über die richtigen Worte nach, als ein ohrenbetäubender Knall ihn aus seinen Gedanken riss.
Schwarzer Rauch stieg hinter der Straßenbiegung auf. Im ersten Moment dachte er an die Saint Andrews Primary School, doch die lag noch weit dahinter. Es war mehr in der Nähe seines Wohnhauses. Steve spürte seinen Herzschlag bis zum Kehlkopf hinauf, während ihn seine Füße immer schneller die Straße entlang trugen. Das war bestimmt die Bäckerei nebenan, versuchte er beim Rennen sich selbst zu beruhigen, als er mit voller Wucht gegen einen ausgestreckten Arm prallte, der aus dem Windfang einer Eingangstür hervor geschnellt war. Einen Augenblick lang folgten seine Beine noch ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit, bis sie begriffen, dass der Oberkörper ihnen nicht mehr folgte. Steve krachte rücklings auf den steinigen Boden und schlug hart mit dem Kopf auf den Pflastersteinen auf. Keuchend versuchte er seine Atmung wiederzufinden, als eine verschwommene Gestalt in einem langen dunklen Ledermantel ihn packte und mit gekonntem Griff über die Schultern legte. Steve röchelte, während ihn die Gestalt in eine schwarze Limousine setzte und die Tür von außen schloss.
„Fahr los“, wies Herr von Falkenberg seinen Fahrer an, und die Limousine setzte sich mit quietschenden Reifen in Bewegung.
„Halten Sie sofort wieder an! Meine Eltern sind da drin! Halten Sie verdammt nochmal an!“ Steves Stimme überschlug sich vor Angst.
Die Limousine schlingerte, als sie den entgegenlaufenden Passanten auswich, die in Richtung des Brandes rannten.
„Du kannst ihnen nicht mehr helfen.“
Der Heranwachsende kniete sich auf die Rückbank. Verzweifelt versuchte er irgendwo zwischen den Schaulustigen seine Eltern zu entdecken. Im rauchenden Schatten der Eingangstür bewegte sich eine Gestalt, doch es war ein Fremder, der aus dem Haus trat. Er schien vollkommen unverletzt, hustete noch nicht einmal. Als er sich umsah, trafen sich einen kurzen Moment ihre Blicke, und Steve hatte den Eindruck, dass der Mann nicht erfreut war, ihn in dem Wagen zu sehen.
„Sie … sie sind nicht draußen …“, Steve ließ sich kraftlos auf den Sitz zurück rutschen.
„Du hast sie doch sowieso nicht geliebt“, behauptete Herr von Falkenberg mit eisigem Lächeln, während der Wagen in den Kreisverkehr der Milbay Road abbog und das Geschehen hinter sich zurückließ.
„ Sie waren das!“ Die Worte pressten sich nur mühsam an dem stetig wachsenden Kloß in Steves Hals vorbei.
Nathaniel lehnte sich entspannt zurück, während der Fahrer den Wagen gekonnt um die nächste Kurve schlittern ließ, und gleich darauf das Gaspedal erneut bis zum Boden durchtrat.
Steve starrte ihn fassungslos an. „Ich habe Sie was gefragt!“
Als sein Gegenüber noch immer nicht antworten wollte, holte er wutentbrannt mit der Faust aus. Doch bevor er zuschlagen konnte, stürzte er in eine bodenlose Finsternis. Unheimliche Stimmen flüsterten ihm in einer grauenerregenden Sprache zu. Steve merkte, wie alles in ihm bleiern schwer wurde.
Als er wieder zu sich kam, hatte er jegliches Zeitgefühl verloren, doch die Stimme von Falkenbergs ließ ihn aufhorchen.
„… eine Bombe. Seine Eltern sind dabei umgekommen.“
„Oh, mein Gott. Und der Dormitor?“, fragte eine knisternde Stimme aus dem Lautsprecher.
„Ist bei mir.“
Steve lag auf der ledernen Sitzbank entgegen der Fahrtrichtung. Langsam setzte er sich auf. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, und das Dartmoor schlummerte unter einer Decke nächtlicher Nebelschwaden.
„Sie haben sie umgebracht.“ Seine Stimme war so heiser, dass sie kaum mehr als ein Flüstern war.
Statt einer Antwort legte sich der Mann nur mit einer kurzen Geste den Zeigefinger auf die Lippen, um ihm anzudeuten, dass er still sein solle.
„Wie geht es ihm?“, wollte die Stimme wissen.
„Er ist gerade wieder zu sich gekommen.“
„Hört er mit?“
„Ja.“
„Steve?“, wandte sich der Mann aus dem Lautsprecher an ihn.
Steve blickte seinen Entführer verwirrt an.
„Ich würde an deiner Stelle antworten.“
„Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Ernest Bernstein.“
„Und der andere Typ?“
„Nathaniel von Falkenberg“, antwortete die Stimme.
Steve schnaubte verächtlich.
„Bist du verletzt worden?“, wollte die Stimme im Lautsprecher wissen.
„Mein Schädel tut weh. Wieso haben Sie meine Eltern umgebracht?“
„Das waren wir nicht, Steve.“
„Ja, sicher. Und der Arsch hier ist auch nicht der Schwarze Mann .“
Nathaniel drückte kurz auf die Stummtaste und starrte Steve mit blitzenden Augen an.
„Ich war bisher noch sehr geduldig, aber wenn du es noch einmal an Respekt mangeln lässt, wird sich mein Fahrer mit deinen Fingerknöcheln die Zähne reinigen.“
„Ich weiß, dass Herr von … seid ihr noch dran?“
Steve verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Grinsen und Nathaniel gab das Mikrophon der Freisprechanlage wieder frei.
„Ja“, meldete sich Nathaniel.
„Nun, ich weiß, dass er nicht gerade einfühlsam ist, aber wenn ich die Situation richtig einschätze, hat er dir wahrscheinlich das Leben gerettet.“
„Klar doch.“ Steve schnaubte verächtlich.
„Steve, es ist kompliziert. Wir werden uns in Ruhe unterhalten, sobald ihr hier seid.“
„Wie Sie meinen.“
„Nathaniel?“
„Ja.“
„Bring Steve bitte auf den Gutshof. Wir treffen uns dort.“
„Wir sind morgen früh da.“
„Passt auf euch auf.“
Nathaniel legte auf und warf Steve einen beiläufigen Blick zu. „Wir sind noch einige Stunden unterwegs. An deiner Stelle würde ich etwas schlafen.“
„Sie sind aber nicht an meiner Stelle.“
Nathaniel lehnte sich lächelnd zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Da hast du Recht“, murmelte er lächelnd und schloss die Augen.
Die Limousine rauschte durch eine sternenklare Nacht, bis sie schließlich im Morgengrauen in einen Schotterweg einbog, der sich noch gute zwei Meilen zwischen einigen Hügeln hindurch wand, bevor sie schließlich vor einem alten Gutshaus zum Stehen kam. Wild wachsende Sträucher, Kräuter und hohes Gras umgaben das verfallen wirkende Gebäude, dessen Mauerwerk schon einige Risse aufwies. Auch die Scheune gegenüber schien schon mal in einem besseren Zustand gewesen zu sein. Das teilweise eingestürzte Dach riet jedem, der auch nur etwas an seiner Gesundheit hing, das morsche Tor nicht zu durchschreiten.
„Steig aus“, befahl ihm Nathaniel unwirsch.
„Hier?“ Steve zog die Stirn in Falten und musterte das heruntergekommene Gebäude. „Sie machen Witze.“
Nathaniel öffnete die Tür und verließ die Limousine.
„Ich dachte immer, einer wie Sie wartet darauf, dass der Chauffeur von außen öffnet“, grinste Steve spöttisch.
„Steig aus!“
Steve verließ den Wagen, und sobald die Tür von außen geschlossen war, wurde der Wagen gewendet und hinterließ eine Wolke aus Staub und Kies, bevor er wieder zwischen den Hügeln verschwand.
Von Falkenberg ging auf das Haupthaus zu und schob die halb in den Angeln hängende Tür beiseite. Als er merkte, dass Steve ihm nicht folgte, sondern im Gegenteil einige vorsichtige Schritte rückwärts machte, hielt er einen kurzen Moment in der Bewegung inne.
„Versuch es gar nicht erst.“ Mit diesen Worten verschwand er im Inneren des Hauses und ließ ihn allein auf dem Hof zurück.
Steve sah sich um. Nichts an diesem Ort erweckte in ihm auch nur einen Hauch mehr Vertrauen als sein Entführer. Und dennoch. Da war ein merkwürdiges Gefühl der Geborgenheit, das er sich nicht erklären konnte. Irgendetwas an diesem Ort griff sanft nach seiner Seele und nahm ihm die Angst. Tatsächlich war es ihm, als würde der Wind ihm ein freundliches Willkommen ins Ohr flüstern, so dass er jegliches Misstrauen für zumindest kurze Zeit verlor und Herrn von Falkenberg ins Haus folgte.
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