„Könnte sein, Paul, was aber, wenn Courtain die Information von einer öffentlichen Telefonzelle aus, oder mit einem durch die Post übermittelten Brief, oder eine direkt in den Briefkasten des Empfängers eingeworfene Nachricht, dem Erpressten zukommen gelassen hätte? Dann würden wir nichts finden. Als Erpresser mit etwas Überlegung würde ich niemals eine solche Benachrichtigung elektronisch übermitteln. Es sei denn aus einem Internet-Café.“
„Du denkst schon wieder an deinen alten Möwenspur Fall?“
„Kam mir jetzt nur so in den Sinn. Ein Internet-Café wäre schon etwas anonymer, als das eigene Telefon oder der eigene Computer. Der Zufall müsste schon sehr groß sein, wenn dort jemand einem über die Schulter sieht und die Nachricht liest.“
Ewen und Paul trafen im Kommissariat ein und gingen in Ewens Büro. Paul machte noch einen Abstecher zu Robert Gallic und übergab ihm das aus dem Haus von Courtain mitgenommene Notebook. Als er zu Ewen ins Büro kam hatte der die Erkenntnisse des Tages bereits an seiner Pinnwand angebracht und das Kennzeichen des BMW von Robert Courtain herausgesucht.
„Was ist denn mit dem Hinweis von Thierry Guillem, dass sein Freund auf der Île-de-Bréhat gewesen ist? Ich habe mir das notiert, weil mir ein Bericht im Ouest France in Erinnerung ist. Wenn ich mich richtig erinnere, dann ist ein Mädchen auf der Insel vor einigen Wochen ums Leben gekommen. Die Polizei ist von einem Unfall ausgegangen. Wenn aber jetzt Courtain jemanden erpresst hat, dann könnte es schon sein, dass er etwas gesehen hat.“
„Wir können zweierlei machen“, meinte Ewen und schien zu überlegen.
„Wir sollten uns die Protokolle von dem Vorfall auf Bréhat kommen lassen und das Datum des Vorfalls mit der Zeit des Aufenthaltes von Courtain vergleichen. Schließlich wäre es noch interessant zu wissen wer sonst seinen Aufenthalt auf der Insel verbracht hat. Das werden zwar eine Menge Leute gewesen sein, aber wenn gleichzeitig mit Courtain andere Einwohner aus dem Großraum von Quimper auf der Insel gewesen wären, dann könnten wir uns diejenigen doch ansehen. Was meinst du dazu?“
„Finde ich grundsätzlich gut, aber du bist dir darüber im Klaren, dass wir vielleicht viele Personen überprüfen müssen?“
„Bin ich mir, Paul, aber das machen wir erst morgen. Ich mache jetzt Schluss für Heute.“
Paul sah auf die Uhr und stellte fest, dass sie schon wieder bis kurz vor 20 Uhr im Büro waren. Ihn erwartete niemand, aber Carla wäre bestimmt erfreut, wenn sie Ewen noch vor dem Schlafengehen zu Gesicht bekäme.
„Bis Morgen, Ewen“, sagte Paul und verabschiedete sich von seinem Kollegen.
Ewen Kerber fühlte sich ausnahmsweise entspannt, obgleich er seinen Fall noch nicht gelöst hatte. Ruhig lenkte er seinen Citroën durch den Verkehr von Quimper. Der übliche Feierabendstau war schon vorbei und er kam gut durch die Innenstadt. Er stellte seinen Dienstwagen in der Einfahrt ab und ging gemütlich zur Eingangstür. Bevor er seinen Hausschlüssel aus der Tasche ziehen konnte, wurde die Tür bereits von Carla geöffnet.
„Guten Abend, Liebling“, begrüßte sie ihren Mann. Ich war gerade dabei ein paar frische Blumen zu schneiden. Ich bin sofort bei dir.“
Sie gab Ewen einen Kuss und ging an ihm vorbei in den Vorgarten zu den langen Reihen der Rosen, die schon seit vielen Jahren hier wuchsen und bereits von Ewens erster Frau gepflanzt worden waren. Carla hegte und pflegte die Rosen sorgfältig und die Rosen dankten es ihr, mit ihrem betörenden Geruch und ihrer fast ununterbrochenen Blütezeit. Nach wenigen Minuten kehrte sie ins Haus zurück und hatte fünf Rosen in der Hand.
Nie war es eine gerade Zahl an Blumen, stellte Ewen immer wieder fest. Schon seine erste Frau hielt sich an dieses ungeschriebene Gesetz, dass man immer eine ungerade Zahl an Blumen verschenkte oder in die Vase stellte. Ewen leuchtete nicht ein warum das so sein musste.
„Dein Aperitif steht auf der Terrasse mein Schatz“, rief sie Ewen zu, als sie sich auf den Weg in die Küche machte, um die gerade frisch geschnittenen Rosen in eine vorbereitete Vase zu stellen.
Ewen war automatisch auf die Terrasse gegangen und hatte sich bereits in seinen Sessel gesetzt, das Weinglas mit dem gekühlten Rosé gefüllt und den danebenliegenden Ouest France in die Hand genommen. Einzig die amuses gueules, die sonst auch auf dem Tisch standen, fehlten heute. Nicht, dass Ewen ein Macho-Typ war, er war aber ein ausgesprochener Gewohnheitsmensch. Bevor er Carla noch nach kleinen Häppchen zum Aperitif fragen konnte, trat sie bereits auf die Terrasse mit einem Teller voller erwarteter Köstlichkeiten.
„Ich habe heute etwas anderes gemacht, Ewen, du wirst auf deine Paté aux pommes verzichten müssen. Ich habe Galettes Bretonnes mit Roastbeef gemacht.“
„Oh, Galettes mit Roastbeef? Das ist neu, die habe ich noch nicht probiert.“
Ewen war gespannt auf die Galettes. Crêpes und Galettes mochte er durchaus. Er besuchte regelmäßig mit Carla eine gute Crêperie. Er mochte vor allem die Crêpes-complète, die mit Käse, Schinken, Ei und manchmal noch mit Kartoffeln gefüllt waren. Dazu genossen sie gerne einen guten bretonischen Cidre. Aber jetzt gab es nicht eine ganze Galette, sondern kleine geschnittene Streifen.
„Versuch doch bitte einmal und sag mir, wie sie dir schmecken.“ Carla hielt Ewen den Teller hin. Er nahm sich ein Scheibchen und biss hinein. Es schmeckte köstlich.
„Die sind ja wunderbar gefüllt! Wie hast du das gezaubert?“ Ewen griff erneut zum Teller und nahm sich eine zweite Scheibe.
„Ach, das ist gar nicht viel Arbeit gewesen. Ich habe eine Mischung aus Frischkäse, Meerrettich und etwas klein geschnittener Kresse hergestellt, mit Salz, Pfeffer und etwas Piment d´Espelette gewürzt. Dann brauchte ich nur noch die Galettes mit dem Käse zu bestreichen, habe das Roastbeef daraufgelegt und etwas Sel de Guérant und einige Spritzer Zitrone hinzugefügt. Dann habe ich die Galettes eingerollt, sie mit Frischhaltefolie umwickelt und zwei Stunden kaltgestellt. Danach brauchte ich sie nur noch in kleine Häppchen zu schneiden. Du siehst es geht ganz schnell.“
„Und schmeckt einfach köstlich zu einem Rosé.“
Ewen war wieder einmal von Carla überrascht worden. Sie brachte es fertig, immer wieder eine neue Köstlichkeit zuzubereiten.
Nach dem Abendessen blieben sie noch auf der Terrasse sitzen und genossen zusammen ein Glas Bordeaux.
Am nächsten Morgen fuhr Ewen gegen neun Uhr ins Büro. Paul Chevrier stand mit Dustin auf dem Gang, vor den Büroräumen auf der zweiten Etage des Kommissariats.
„Bonjour Paul, Bonjour Dustin, begrüßte er seine Kollegen. Gibt es etwas Neues?“
Dustin wandte sich an Ewen und nickte.
„Ja und nein, wir haben bei Robert Courtain nicht viel gefunden. Entweder hat der Mann alles sofort beseitigt, oder die Erpressung ist nicht von ihm ausgegangen.“
„Dustin, das geht mir jetzt zu schnell. Du willst sagen, dass ihr keinerlei Hinweise darauf gefunden habt, dass der Mann Erpresserbriefe geschrieben hat? Nur den einen, den Paul im Papierkorb gefunden hat? Wenn er so vorsichtig gewesen ist, warum wirft er dann ausgerechnet den letzten Brief in den Papierkorb? Das ist doch wie auf den Präsentierteller gelegt.“
„Darüber habe ich gerade mit Paul gesprochen. Wenn Courtain wirklich die Briefe verfasst hat, und stets darauf geachtet hat keinerlei Spuren in seinem Haus zu behalten, warum hat er dann diesen Brief in den Papierkorb geworfen? Ich neige dazu zu behaupten, dass der Brief dort deponiert worden ist.“
„Deponiert? Aber von wem? Habt ihr Spuren eines Einbruchs finden können?“
„Spuren einer gewaltsamen Öffnung der Haustür oder eines Fensters haben wir nicht gefunden. Wenn jemand den Erpresserbrief absichtlich in den Papierkorb von Courtain gelegt hat, dann musste er einen Hausschlüssel gehabt haben.“
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