Auch über Bob Dylan gäbe es bereits Versuche, seine Theologie, Ethik oder Philosophie zu beschreiben. Natürlich würde ich mich auf ein Minenfeld begeben, da der Biographierte schließlich noch am Leben sei. Es dürfe aber nicht darauf ankommen, Gefälligkeiten aneinanderzureihen, dafür sei das Leben tiefer und weiter.
Der music man Kunze, mutierter Germanist und Philosoph, zieht viele mit seiner Musik in den Bann. »Wenn du nicht wiederkommst, oooh, ohoh-oho ...«, rufen seine Zuhörer, wenn er die Bühne verlassen hat. In einer ganz eigenen Mischung aus kontrollierter Ekstase und lustvoller Selbstentsagung entfacht Kunze ein Bühnenfeuer, das im Herzen der Zuhörer landet. Jedes Mal aber, wenn man das Gefühl hat, jetzt dürfte die Coda unendlich weitergehen, setzt er der Faszination preußisch korrekt ein Ende. Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören, hätte mein verstorbener Vater gesagt. Etwa bei »Heul’ mit den Wölfen«, ohne Ende könnte das weitergehen. Tut es aber nicht. Und das ist typisch Kunze. Der Steuermann weiß in dem Moment genau, was er tut. Er möchte keinen falsch verstandenen Personenkult. Ihm kommt es auf die Sache an. Er gibt Zeit und Raum, sich frei zu dem zu verhalten, was er anbietet. Aber er nuckelt sein Publikum nicht aus.
Und dann ist da der Poet Kunze, der alles, was sich reimt und nicht reimt im Leben, zur Sprache bringen kann. Bei seiner Wahrnehmung von Welt ist er selektiv und präzise. Da macht ihm so schnell auch kein Zeitgenosse deutscher Zunge etwas vor. Wer genauer hinhört und liest, erkennt freilich, dass er nicht nur nicht bei dem Feuerwerk sprühender Gedanken mitkommen kann, sondern in geduldigem Nachwandern der oberirdisch von ihm gegrabenen Gänge eines immer wieder finden kann: Anstiftung zum Lesen, zu eigener Lektüre.
Seine Art und Weise, Texte zu tilgen, zu verzerren oder zu generalisieren, um Wirklichkeit treffend und erhellend zu vergegenwärtigen, mit Wortneuschöpfungen wie ein Senkblei neue Tiefen des Verstehens auszuloten, bürgt für Qualität. Kunze verleiht Sprache und Verstehen dem, der vielleicht nicht so präzise reden oder schreiben kann. Gute Literatur lässt bei Heinz Rudolf Kunze unbedingte Freude aufkommen. Dabei geht es HRK nie um die Zurschaustellung, sondern um Textfluss, Klarheit und Verstehen.
Was also macht HRK zum Propheten?
Ein Lieblingsplatz könnte der Galgenberg aus Led Zeppelins »Gallows Pole« sein. Unablässig fragt er, was kann ich meinem Nächsten zu denken geben, ihm oder ihr sagen, sie oder ihn fragen, damit dieser Mensch dem Henker entgeht. Unablässig und nicht selten vergeblich warnt er seine Zeitgenossen vor den Fallen, die das Leben stellt. Es gilt, das Schrecknis der eigenen Endlichkeit zu verringern, anzunehmen, das Hier und Jetzt aus
der Schlinge zu ziehen, aus dem Verrat, aus dem Dickicht des Lebens und so der Sprachvergiftung in der Innenwelt zu entkommen. Ich höre ihn den Sensenmann in uns und um uns herum bitten und anklagen: Henker, Henker, warte noch einen Augenblick, ehe es den Bach runtergeht.
Kunze denkt von dem im Deutschen so seltenen Futur II und dem zu Unrecht verachteten Konjunktiv her. Möglichkeit und Wirklichkeit verzahnen sich in seiner Betrachtungsweise.
Propheten erzählen weniger Geschichten, eher setzen sie Fakten. Dass sie das singend tun, ist selten, denn sie leben aus dem Schweigen und Hören. Wenn dann etwas zu sagen ist, geht es zur Sache, erhellend, erleuchtend, immer wieder explosiv und provokant. Da gibt es keine Tabus, ganz im Sinne des verehrten Situationisten, der sich am Tag von Kunzes 40. Geburtstag 1996 das Leben nahm: Guy-Ernest Debord, dem französischen Mitbegründer der Lettristen und dem Situationisten von Rang: »Verbieten ist verboten! (II est interdit d’interdire), diesenGrundsatz hatte Kunze immer mehr beherzigt als den Slogan »Arbeit? Niemals!« (Ne travaillez jamais). Ein wenig fühlt man sich an Dieter Leisegangs Mottentod erinnert:
»Ich weiß«, betonte die Motte »daß mich das Licht verbrennt Ach, wer mir ein Ende nennt das ich erhabener fand - gern ließ ich die alte Marotte«
Deshalb wirkt sein Tonfall selten süß oder gar lieblich; dem Teufel gehört lutherisch gesprochen das Eisen zwischen die Augen. Wer lange fackelt, dem fügt er unablässig neue Wunden zu. Keiner bleibt verschont. Keine weltliche Macht, kein Klerus und selbst Gott muss damit rechnen, dass Kunze ihn mit unerbittlichen Worten zum Eingreifen bewegen will.
Bei der weltlichen Macht ist die Attacke zumeist direkt und schonungslos, wenngleich stets mit Takt und mit einem Rest Mitgefühl:
»Einfeste Burg ist unser Gerd. Und wenn er nach getaner Arbeit in den Sonnenuntergang reitet, dann ist das noch lange nicht der des Abendlandes, sagen die Obersheriffs Schröder und Fischer. Die Rollen stehen ihnen gut, ein niedersächsischer Rock Hudson (wenn sie den Vergleich entschuldigen, Doris KÖPFSCHRÖDER) und ein hessischer Richard Widmark - oder hätten Sie sich ernsthaft Helmut Kohl als John Wayne vorstellen können?« heißt es zum Aprilscherz 1999 beim Bombenwetter über Ostern in Endlich Cowboy statt Indianer in Kunzes Klärwerk süffisant.
Den Klerus aber erwischt es auch in unteren Hierarchien hart: Über der erwartungsbraunen Erde Anfang Februar wird die Schweigsamkeit eines Jungtheologen bei einem Menschen angeprangert, dem wir, » ein paar verschobene Abflüge im Kopf und ein wenig Effekthasch zur betäubenden Drähnung gegen den Alltagsschwachsinn, die delikaten kleinen Schweinereien in der Beichte nicht abnehmen« ... Der Prophet Kunze im entscheidenden Augenblick als Mann des Wortes unter dasselbe, wenn es um die Anerkennung des höchsten Gutes und die Relativierung des eigenen Standpunktes geht. Gott ist eben immer »Mehr als dies«, mehr als alles, was der Mensch fassen kann. Wie bei der Liebe, die sich ereignet als etwas, das heute mit uns geschehen kann und größer als zwei Menschen oder die ganze Welt ist.
Aus Sicht der Propheten sind wir alle oft die Blinden und Tauben. Jedes Mittelmaß wird abgelehnt, heilige Einseitigkeit ist sprichwörtlich. Deshalb wirkt so jemand oft fremd und passt in kein Schema, wirkt oft wie ein unerträglicher metaphysischer Extremist. Damit befremdet er alle, Schwache, Starke, Fromme und Glaubensferne. Sein Leben reißt keinen vom Hocker. Im Gegenteil: Seine Strenge, seine Härte, seine Unempfindlichkeit stößt ab und schärft den Blick für das Leiden an der Vergänglichkeit.
Dein vorletzter Wille
(...)
Da liegst du nun. Welche Schuld fordert als Preis ein so rasend vergebliches Leiden?
Welch jüngstes Gericht hat deine Akte verlegt?
Muß Gott alles selber entscheiden?
Erlöse mich, wenn es zum Schlimmsten kommt -das war doch dein vorletzter Wille.
Dein letzter war nur ein Schluck Wasser.
Und seither nichts als Stille.
Oft verbirgt sich hinter den harten und abweisend klingenden Worten eine tiefe Menschenliebe wie bei den alttestamentlichen Propheten. Wie diese sieht auch er seine Aufgabe nicht darin, in der Zukunft herumzuorakeln, sondern die Feuersäule soll im Hier und Heute und Jetzt zu sehen sein, um das rechte Wort zu finden. Sätze wie diese des Propheten Jeremia: »Wohl genährte, geile Hengste sind sie geworden, ein jeder wiehert nach dem Weibe des Nächsten« oder: »Sie alle, vom kleinsten bis zum größten, sind auf Gewinn aus, und Betrug über alle, so Priester wie Prophet« (Jer 5,8; 6,13) spiegeln sich in seiner Auslegung des kleinen Propheten Maleachi auf dem Evangelischen Kirchentag 2005 wider:
(...)
Denn wenn Gott die Faxen dick hat, wenn er erscheint, dann wird abgerechnet mit den Schaumschlägern und Trickbetrügern,
mit den Lügnern und - oh je! Wie althergebracht weh das tut! -mit den Ehebrechern.
Dann wird Tomatensaft gemacht aus den Treulosen.
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