1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 gesang über die mütter von gefallenen kriegern
sie haben hervorgebracht/es ereignet sich/niedergehauen
es hat berührt/tränennaß/es ist geschehen/unfaßbares /unheil
es ward ihnen nachricht/die hände in die gesichter gekrallt
es ist geschrei/in der luft
sie haben hervorgebracht/es starren die wunden
laufen/es ist totenruhig/auf die grabkreuze blicken
es ist unabänderlich/die äugen schließen/es zittern die lider
niedersinken/es schweigt das blutverkrustete schwert
nach gott fragen
Ein ebenfalls häufig wiederkehrendes Motiv mit ganz unterschiedlichen Akzentuierungen: der Krieg. Durchstreichungen, handschriftlich im Manuskript, als Zeichen häufiger Überarbeitung schon in jungen Jahren. Die
Folgen eines fatalistischen »es gibt, man hat« - die gnadenlose Maschinerie wird mit Bleibuchstaben auf das wehrlose Papier gehämmert.
Limits/ich- nein,/einer/- nein, irgendwer
Jemand/- nein/mancher/- nein,/man
Du/du auch/oder auch du/bist angesprochen
man sollte.../mancher.../jema.../irgendw.../ein.../i...
es sollte Mut bewiesen werden.
Ein tödliches Spiel: Verantwortungsdiffusion. Ihm kann man nur entgehen durch die klare Übernahme von persönlicher Verantwortung. Dazu gehört Mut. Und den schreibt Kunze nicht nur hier groß.
meine generation
schon gelingt es uns nicht mehr
einander länger als erschreckenskurz
auge in auge standzuhalten wenn wir etwas sagen wollen;
und kaum daß wir noch reden
wir öffnen unsre fressensluken
und speien multiwandelbare code-spots;
vom viel zu vielen durcheinander aufgeschnappten
sind memorierbar noch drei fetzen freud
und falsch zitierend decken wir mit seinen lust- und lasterworten
unsre mund- und tatenlose defensive
wir sind ein volk verrammelter mansarden
einpulk von pionieren wo schon andre waren
der bartansatz verbirgt das aufdielippebeißen;
einkotend sich und sein revier markierend
im kriegszustand mit glück - selbstunbefriedigung
sie sitzt uns jämmerlich: die uniform der einsamkeit;
das einzige was für uns noch gemeinsam gilt
ist jede menge schuft als hinterlassenschaft
und mancher wünschte wohl geleert zu werden
wie seine tonne von der müllabfuhr die heut noch funktioniert.
Geradezu exemplarisch führen die Variationen »schmerz 1-5« die poetischen Grundübungen an einem existenziell wichtigen Begriff vor:
schmerz 1
bis dahin wo die/blu-lmen enden
erfüllt der verwunsch/abgeprankt mein
schreireich/ich aufgefunden
blu-/tig zeitsam still
in frieden/rothauch der näßt
bis wo der blick mir bricht
Das Gedicht liest sich wie ein Blues auf Blumen und Blut nach einem schweren Verkehrsunfall, ehe das Verkehrsopfer vom Schreireich der Schmerzen über den Rothauch in das Weiß der Notfallaufnahme des Krankenhauses hinüberdämmert.
schmerz 2
sezierung was ich bin mitanfühlenmüssen und
wie abgeschämt die eigenschaften abgebogen
unausstehl
furch ertl
kleinl
widerl
oberflächl
unsachl
schmerzl
ich.
schmerz 3
ich sehe einen menschen weinen/und trinke ein bier
ich höre mehrere menschen hoffnungslos streiten/und trinke ein bier
ich rieche daß der tod vieler menschen in der luft liegt/und trinke ein bier
ich lese bei klarem verstand daß auch ich zum todeskampfzeitalter gehöre
und trinke ein bier
ich wußte schon immer ich wie und es steht mir vor augen
daß bier mich nur umbringt /und ich trinke ein bier
Die Abgestumpftheit gegenüber dem Leid des Nächsten liest sich wie eine hilflose Transaktion des suicidal man mit seiner immer dumpfer werdenden Wahrnehmung seiner Welt. Wie ein Spaziergang zwischen Palliativstation, Psychiatrie und Entziehungskur werden letzte Schmerzbetäubungen protokolliert:
schmerz 4
zeit druck/zwingt zur liebe/happenweise
besitzen die traurige frau/erregt/an liebestränen glauben
komm her du reizfleisch /fügsam schnurrt/die vernaschkatze
und
schmerz 5
das sonstloch:/
natürlich gibt’s/für uns/nur eins/was/(denn)/sonst?
so das wärstwohl!warsonst/(etwa)/noch was?
DEMUT'./sonst:/(---)
»Die für Ihr Alter erstaunliche Begabung ist offensichtlich« schreibt ihm die Redaktion »Die Horen« aus Hannover-Herrenhausen, die die Londoner Times immerhin als eine der gescheitesten und konsequentesten unter den Zeitschriften in Deutschland zu rühmen weiß. Er behält sich sogleich drei Gedichte zur Veröffentlichung zurück und weitere Zusammenarbeit vor. Sie entstammen dem Band Gedichte und Kurzgeschichten »1973/74« mit ca. 80 DIN-A4-Seiten (unveröffentlicht):
jeans
graublau verwaschen verwichstespotenzgewebe
der stoff auf den man sich verlassen kann
der stoff in dem man aussieht/wie
jeans sind ein gerücht/einer fängt an alle weit macht mit
eigentlich/gibt es wohl gar keine jeans (?)
alle kniekehlen sehen gleich aus
in jeans/und alle ärsche
und alle hodenballen/zieht die jeans aus leute
zieht sie aus/ihr wollt doch
keine uniformen oder
Es folgt:
morgens müde
heutefrühschicht
fünf uhr aufstehn aus den
federn kleine äugen knappe mahlzeit kauend radio
in den mantel wenig worte aus der haustür
grauer morgen nasse nebel rauf aufs fahrrad
kalte straßen matte lichter das fabriktor
massenschlucker wortlos umziehn in die hallen
ran ans fließband rhythmisch rucken stunden schleichen
auskeuchpausen stumme griffe steife hände tote blicke
taube ohren feierabend aus den hallen wortlos umziehn
massenspucker das fabriktor matte lichter kalte
straßen rauf aufs fahrrad nasse nebelgrauer abend
durch die haustür wenig worte aus dem mantel kauend
fernsehn warme mahlzeit kleine äugen in die federn
ich:du
ich:
du:
ab und anrede
hin und widerspruch
blamabel was wir faseln
der manchmalige wünsch nach nacktheit - ich:
nehme mich in den mund
spreche mich aus doch immer gerade dann
willst du nichts hören willst nichts sehen
zurrst deinen mantel fester keiner sieht mehr ein stück haut von dir
worte quälen sich
aus uns heraus ab und zuhälter
von sich spreizenden gemeinplätzen bin - ich:
bist
du:
»reich mir deinen mund zum kuß und ich:
beiß hinein weil ich hungrig bin«
»leg deinen körper erwartend nieder und ich:
wühle mich stumm in dein zittern«
ich: du: liebe von mal zu mal
Kunze schickt sich indessen trotz der Vorbereitungen auf das Abitur an, dem Jugendfunk des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg seine Aufwartung zu machen.
Seinen Lebenslauf für die Anthologie gibt er so an:
HRKgeb. 30.11.56 Espelkamp/Mittwald. Aufgewachsen in Lengerich/West., Altepiccardie (Grafschaft Bentheim), Bad Grund (Harz) und Osnabrück, da der Vater, Lehrer, viel versetzt wurde. In Osnabrück Besuch des GSG [Graf-Stauffenberg-Gymnasium, Anm. d. Vf.] , Abitur im Frühjahr 75. Regelmäßiges Schreiben ab 1971, bis jetzt 3 Gedichtbände, Kurzprosa, 3 Romane, 2 Stücke, alles Versuche, die Probleme der eigenen Generation aus der authentischen Position der Gleichaltrigkeit zu formulieren.
Wie auch immer: In seinem letzten Schuljahr hagelt es ab März 1975 aus der Ameldungstr. 21 ein Bleigewitter an rund ein Dutzend Verlage und Redaktionen. Nun geht es um den Willen zur Veröffentlichung, Aufbruchs -stimmung. Half shy, half assertive - halb scheu, halb angriffslustig.
»Ich bin Abiturient und 18 Jahre alt. Diese Tatsache möchte ich weder als eine Art Entschuldigung für mangelnde Erfahrung noch als »Außtänger« verstanden wissen - jedenfalls schreibe ich und glaube, daß mein Alter die Formen und Inhalte meiner Arbeiten wesentlich bestimmt und darum am Anfang dieses Schreibens stehen muß.
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