Hiermit bewerbe ich mich um die Teilnahme an der Sendung »Alles oder nichts« zum Thema: Die Rockszene der letzten 10 Jahre. Ich meine dieses Thema zeitlich so eng eingrenzen zu können, weil sich in diesem Zeitraum musikalisch so viel ereignet hat, daß es durchaus eines profunden Wissens bedarf, um von sich sagen zu können, daß man sich auskennt.
Dieses Wissen erwarb ich mir durch das Studium englischer und deutscher Musikzeitschriften, regelmäßigen Konzertbesuch, eigene musikalische Praxis (Organist in einer Amateur-Jazz-Rock-Gruppe) sowie durch eigene Kompositionen und Texte. Im Sommer 1974 lernte ich in England die (inzwischen aufgelöste) Bluesrockband »Groundhogs« persönlich kennen. Im ausführlichen Gespräch bestätigten mir die Musiker meine Sachkenntnis.
(...)
Mit freundlichen Grüßen H.R.K.
Auch in politischer Hinsicht kommt es bereits im ersten Studiensemester zu folgenreichen Anfängen bzw. einer Kreuzung mit seinem souveränen Sprachgebrauch:
Kunzes kleiner Ratgeber für den Fall, daß Ihnen ein Protestler mit einem Packen Flugblätter beim Einkaufsbummel in die Quere kommt
1. Wenn möglich, eine andere Straße nehmen, die auch zum Ziel führt.
2. Wenn das nicht möglich, entweder das Vorgehabte aufgeben oder wie
folgt:
a. Bei Annäherung der Protestlers bücken und an den Schnürsenkeln herumhantieren. (Ist aber riskant, da der Protestler möglicherweise abwartet, bis sie fertig sind. Sie wissen ja: Diese Leute vernachlässigen ihr Studium, um andere Mitbürger zu belästigen.)
b. Bei Annäherung eines Protestlers schnell ein Geschäft betreten und ab-warten, bis der Protestler verschwunden ist. Der Geschäftsmann hat Verständnis für sie.
c. Bei Ansprache durch einen Protestler so lange Taubheit vorschützen (auch nicht die Geste des hingehaltenen Flugblatts verstehend), bis sich der Protestler resignierend dem nächsten Passanten zuwendet.
d. Bei Ansprache durch einen Protestler wissend dreinschauen und sagen: »Ich weiß Bescheid, Genosse.«Nach diesen Worten aber zu Hause unverzüglich den Mund spülen.
e. Für den Souveränen: Protestler mit aller Gewalt eins in die Schnauze schlagen und behaupten, daß er angefangen habe. Es finden sich mit absoluter Sicherheit Zeugen, die das bestätigen.
3. AUF KEINEN FALL IN EINE DISKUSSION EINLASSEN. Sie dürfen sich nicht aufregen. Sie dürfen nicht durcheinandergeraten.
Anmerkung: Diese kleine Studie ist als ein Versuch zu betrachten. Der Verfasser ist sich des provisorischen Charakters seiner Arbeit bewußt. Für weitere, ergänzende Anregungen wäre er ausgesprochen dankbar. Die Methoden der Infiltrierer werden immer raffinierter. Demgemäß müssen auch wir immer raffinierter werden. Wir: Das sind bisher noch wenige. Einige wenige, die es in sich haben. Kommen Sie doch zu uns. Passiv versteht sich. Mehr wollen wir ja gar nicht von Ihnen. Bequem, nicht wahr? Sie brauchen die Zukunft nicht mitzugestalten. Das machen wir für Sie.
»Kurz Schluß« des Fachschaftsrates Elektrotechnik. [Nummer 4. Februar 1976, S. 2]
Während an der Universität sich die Vereinigten Deutschen Studentenschaften für die Abschaffung des Numerus clausus, für die Einstellung aller Lehrer, gegen Regelstudienzeit und verschärften Konkurrenzdruck, gegen Berufsverbot, für verbesserte Drittmittelkontrolle und für die Abschaffung der Vetorechte der Hochschullehrer einsetzen, setzt Kunze andere Akzente:
Rar sind die Fische
So viele
Angeln mit Ausrufezeichen
Als Haken
Und Schimpfen:
Die Lösungen beißen heuer nicht.
Sie sollten einmal
Fragezeichen ausprobieren [15.1.1976]
In krass leuchtendem Orange zeigt Kunze seine erste Synthese von Literatur und Musik mit einem Dokument erster echter Männerfreundschaft an:
Literarische Gruppe Osnabrück in Verbindung mit dem Kulturamt Osnabrück
Dichtung und Musik
Heinz Rudolf Kunze: »mücken und elefanten« (lyrik und lieder)
Michael Franke: »Alte deutsche Lieder« (Deutsche Folklore)
Gitarren, Banjos, Mundharmonikas, Tonbänder etc. im Kulturgeschichtlichen Museum Osnabrück am Mittwoch, 18.2.1976, 20 Uhr Eintritt 2 DM, Schüler und Studenten: 1 DM.
Die Presse reagiert mit »Wohlgespitzte Pfeile« [NOZ 20.2.76]: »Hatte Michael Frank(e) eben den Zauber alter deutscher Lieder heraufbeschworen, so riss Heinz-Rudolf Kunze mit aggressiven Texten die Hörer jäh in die Gegenwart.«- »Recht unbequem gibt sich Heinz-Rudolf Kunze. Seine Aggressivität, die sich bisweilen bis zur Obszönität steigert, und sein scharfer Verstand machen vor nichts Halt. Texte und Songs zur Gitarre, wohlgespitzten Pfeilen gleich, richten sich mit ungeheurer Treffsicherheit gegen Spießbürgerlichkeit, Kriege, Konsumdenken und Klassenkampf Kunzes Texten, von Lichteffekten begleitet, sind sowohl die Attribute sozialkritisch, politisch als auch revolutionär und surrealistisch zuzuordnen. In ein bestimmtes Schema pressen kann man den 19-Jährigen mit Sicherheit nicht.«
Es beginnt die Zeit der verzweifelnden Einordnungsversuche des jungen Künstlers, die ihn bis auf den heutigen Tag zu verfolgen scheinen. Die Lesung, die eine »Singung« (Thiele) war, charakterisieren Kunze als wortgewandten Gitarrenspieler oder gitarrenkundigen Wortspieler [21. 9.1976] »19 Jahre jung, Student der Germanistik und Philosophie in Osnabrück... Er selbst möchte als »Störfaktor« gesehen werden. Leise, fast unauffällig, jedoch gut nuanciert ist sein Vortrag. Er zwingt den Zuhörer zur Konzentration auf seine Worte, die einen umso nachhaltigeren Eindruck hinterlassen. Seine Thematik ist der Mensch allgemein. Sozialkritisches Engagement blitzt hier und da durch.«
Heinz Rudolf Kunze hat nun die Sicherheit für seinen ersten Solo-Auftritt gewonnen, stattfindend in der Lagerhalle Am Heger - Tor Rolandsmauer »Heinz Rudolf Kunze. Lyrik & Gitarre« am 2.1.1977. Schon einen Monat (s. Zitat) zeigt er stolz der Osnabrücker Presse an:
Am Mittwoch, dem 23. Februar 1977, um 20.00 Uhr findet im Kulturgeschichtlichen Museum am Heger-Tor ein Lyrik- und Liederabend unter dem Titel »Kopfschmerzen« statt. Der Autor und Interpret, Heinz Rudolf Kunze, Mitglied der literarischen Gruppe Osnabrück, erhielt durch einen literarischen Wettbewerb der NOZ Gelegenheit zur Veröffentlichung seiner Arbeiten. Danach folgten u.a. Auftritte in Köln, an der Universität Münster und eine Rundfunksendung im NDR. Dem jugendlichen Publikum werden die Abende vor vollem Haus im Museum und in der Lagerhalle gewiß in Erinnerung sein.
Der Sprung zum Achtungserfolg ist geschafft. Der Name ist immer schon Programm.
Er geht seine eigenen Wege. Manchmal auch mit Partnern. »Goethe über dem Abgrund« realisiert mit seinem technischen Mitspieler Matthias Wes-ting. Die Presse rätselt: »Warum nur Negatives?«Kunze sagte, dass er sich nur so äußern könne, Glücksgefühle auszudrücken sei ihm nicht notwendig. Der Eindruck vom Autor ist der eines sehr begabten Menschen, dessen Sprach- und rhythmisches Gefühl sich überströmend äußert. Brokdorf und Kapitalismus, falscher Sozialismus und Giftgas, bürgerlicher Mief und Dortmund-Nord sind Themen, die er mit geballter Leidenschaft darstellt.
Der Sommer geht neben dem Studium einher mit Kontakten zum Musikwettbewerb »Folk im Sender - FIS« beim Westdeutschen Rundfunk in Köln. Nun bekommen die Texte immer häufiger Beine gemacht durch die Töne. Kunze bietet eine erste tracking list in einer Art Heimwerker-Play-backverfahren an, bei der er alle Instrumente selbst gespielt hat und ein Freund die Technik betreut hat:
1. Die Außenseiter (2 Egitarren, Bass, Bongos),
2. Der Morgenstern (Epiano, Orgel, Bass, Klavier, Perc.),
3. Dortmund-Nord (Gitarre, Harmonika, Orgel, Xylophon, Mandoline, Geige, effects),
4. Eines Tages (Gitarre, Epiano, Bongos, Bass, Perc.),
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