1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Meinen ersten Roman schrieb ich mit 16. Ich hatte Salingers »Fänger im Roggen« gelesen und fand es entsetzlich, wie in diesem Buch ein Erwachsenersich in die Gedanken und die Sprache eines Jugendlichen hineinquält. Ich wußte, daß ich einigermaßen treffsicher formulieren kann. Ich machte mich daran, selbst ein Buch über die Probleme von Jugendlichen zu schreiben, authentisch und aus der Gleichaltrigkeit heraus: »Fragen an Erwin« liest sich sicher unerfahren und roh, unbehauen: Hinter seiner Absicht stehe ich aber auch jetzt noch, mit 18.
Nach diesem Roman entstanden weitere Arbeiten: Ein Gedichtband, der Versuch eines umfangreichen lyrischen Romans (den ich in seiner jetzigen Form als gescheitert betrachte, aber wiederaufgreifen möchte), auch zwei Stücke, ein weiterer Gedichtband und ein neuer Roman. Um den zweiten Gedichtband und den zweiten Roman geht es mir hier. Beide Arbeiten wollen - wie alle anderen - nicht mehr und nicht weniger als die Probleme des nunmehr 17- bzw. 18jährigen aufzeigen. (...)
Meine Sprache ist nicht oft betont »lyrisch«, glaube ich. Der Her-metismus liegt mir nicht. Meine Gedichte und Geschichten lesen sich meist offen, setzen keine große Metaphernkenntnis voraus. Ich möchte, daß sie auf viele Menschen wirken.
(...)
Hiermit frage ich bei Ihnen an, ob Interesse besteht, den oben beschriebenen Gedichtband und Roman von mir zugesandt zu bekommen, zu beurteilen und eventuell zu veröffentlichen.
HRK (Anm. d. Vf., Unterschrift in roter Tinte)
Was geht in dem jungen Mann vor? Selbstbewusst drängt ihn seine Berufung zum Schreiben nach außen, zu einer möglichst großen Leserschaft zunächst. Er weiß über sich, dass er keine Scheu vor der Sprache hat, im Gegenteil, er kennt seine Begabung für treffsichere Formulierungen. Er hat sehr wohl seine Peer Generation im Auge, also die Gleichaltrigen, möchte aber von vornherein weder ein postpubertäres Gewusel und Geschreibsel zu Papier bringen noch irgendwelche Gefühlsschwelgereien auslösen. Er will verstanden werden, und zwar von möglichst vielen. Authentizität ist sein Markenzeichen, auch wenn er in zahlreichen literarischen Rollenspielen in unterschiedlichen Perspektiven und Menschen je und je neu seine potenzielle Hörerschaft zu erreichen sucht. Der Primat der Literatur und damit der Vorrang des Wortes vor der Musik wirdden musikverwöhnten Kunze-Hörer zunächst verblüffen.
Wer nun sollten die potenziellen Geburtshelfer seiner avisierten Literaturkarriere sein? Hier nur ein Auszug aus der Liste der Verlage: Suhrkamp Verlag (Antwort innerhalb einer Woche, 17.3.1975) werden »Proben aus Ihrem umfangreichen Manuskript erbeten« und schon bald darauf erfolgt eine schmerzliche Absage. Dr. G. H. ist »recht angetan. Nur können wir zurzeit an eine mögliche Veröffentlichung nicht denken, da die Planung für die kommende Zeit uns keine Lücke mehr lässt. Wir können Ihnen also im Augenblick nur raten, weiter zu schreiben und mit Ihnen hoffen, dass aus diesem Anfang noch mehr werden wird.«- Enorm konstruktiv muss die Rückmeldung vom Verlag Kiepenheuer und Witsch gewirkt haben, die von Kunzes Lyrik ebf. sehr angetan ist. (14. und 25.3.1975) Bei seinen Prosastücken heißt es: »Schreiben kann man tatsächlich nur, wenn man sich selber ganz auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt hat. Erst dann kann man auch über andere schreiben, die man ja nur über sich selber verstehen kann... Sie stehen gleichsam vor der Tür, durch die Sie unbedingt hindurch müssen. Das heißt aber: Es muss etwas mit Ihnen passieren, wenn Sie ein wirklicher Autor werden sollen... Ein Tipp: Sie müssen ganz radikal vor allem mit sich selber umgehen. Das tut man allerdings nur, wenn man gar nicht anders kann. Ob Sie unter solchem Erfahrungsdruck stehen, weiß ich nicht.«
Unterdessen erscheint in den Osnabrücker Nachrichten eine Probe des Schaffens, genauer gesagt zwei:
Das wort liebe
ich habe es zu hause stets angetroffen
sie sei mir unaufhörlich angediehen
sagte man mir
ich habe es eines tages nicht mehr gemocht
so wie ich es kannte
und woanders gesucht
ich habe mich damit irreführen lassen
hereinlegen belügen einschläfern lassen
und wurde böse auf das wort
dann habe ich es bei dir gefunden
auf deinen Uppen ruhend
du sprachst es nicht du atmetest es
dir hab ich das wort geglaubt
Der junge Autor mit Brille, Schnauzbart und gescheiteltem Haar beabsichtigt folgerichtig ein Studium der Germanistik und beschreibt seine eigene Arbeit als »Versuche, die Probleme der eigenen Generation aus der authentischen Position der Gleichaltrigkeit zu formulieren«:
siebzehn
als ich dann auf einmal siebzehn war
sah ich in den spiegel
hörte tonbänder mit meiner stimme ab
und merkte mir nichts an
ich dachte über die vergangene zeit nach
die geleerten flaschen die gedanken
die umarmungen
und schwer bekam ich Ordnung hinein
doch dann sah ich auf das was ich niederschrieb
sah genauer hin
lächelte über meine zeilen
und verstand mich annähernd.
Die Grafschafter Nachrichten bringen »Das Protokoll«, eine minutiös erzählte Kurzgeschichte des Schülers Hegekötter, der irgendwie durch den Wind war, als er das Stundenprotokoll für den gestrengen Lehrer Dr. Mergelmann anfertigen soll. Was sich eingangs beinahe wie eine angstbesetzte Horrorvision vor einem Militärverhör anhört, entpuppt sich erst im Erzählverlauf als Schulgeschichte eines hypersensiblen, pflichtbewussten, voller Skrupel und Unsicherheiten steckenden Menschen. »Sie packen mich und knebeln mich und dann legen sie mich lebendig ins Grab.« - Die irrationale Angst des ersten Satzes wird von Kunze in einem akribisch geschilderten Denk- und Handlungsverlauf nachempfunden und in einem die tiefe Selbstverunsicherung des Schülers umwandelnden Umschwung zu einem besonderen Schluss gebracht. Die Zitterpartie endet ungewöhnlich: Der Schüler »flüsterte, daß er das Protokoll der gestrigen Sitzung nicht habe anfertigen können, und ob es nicht möglich sei, daß erstatt dessen die nächsten beiden fälligen Protokolle anfertige. Dr. Mergelmann lächelte versö[h]nlich, klopfte Hegekötter auf die Schulter und sagte, daß das in seinem Falle doch wirklich keine Rolle spiele. Hegekötter hielt die Luft an, um nicht Dr. Mergelmann ins Gesicht hinein aufzuatmen. Zusammen betraten sie die Klasse. (...)«
Zwischenzeitlich kommt es dann auch zur Ankündigung seiner ersten Rundfunksendung im Rahmen von »Junge Autoren im Gespräch«, in der NDR III in seinem Programm den 18-jährigen »Heinz Rudolf Kunze, der Mitglied der Literarischen Gruppe Osnabrück ist«. [NOZ 17.5.75]. M. S. vom NDR in Hamburg aus der Rothenbaumchaussee Hauptabteilung Wort/Jugendfunk findet ohnehin, »dass Ihre Texte mir auf Anhieb als sehr geeignet für eine künftige Sendung erschienen« [Brief vom 15.5.1975].
Noch ist Kunze ganz im Fahrwasser des Literaten, des Poeten, des Schriftstellers. Verräterisch der rot durchgestrichene Satz in einem Briefentwurf vom März des Aufbruchjahres 1975. Kunze meint von sich, seine Sprache sei nicht oft betont lyrisch, Hermetismus läge ihm nicht und dann: Sie haben zweifellos etwas vom Charakter eines Popsongtextes, stellenweise. Ich möchte, daß sie auf viele Menschen wirken.
Frühe Fragmente legen davon beredt Zeugnis ab, welche Sprache er zu sprechen sucht:
Schärfe deine Sprache
Ich habe alles Mögliche getan, dir zu entsprechen,
sagst du/und ich sehe im Schriftbild deiner Gedanken
die Lüge/in Wahrheit hast du nämlich nur
alles mögliche getan/
und manche Möglichkeit, es recht zu tun, noch ausgelassen
schärfe deine Sprache, schärfe dich
verwischen gilt nicht
ich kann in dir lesen -
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